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Meine zwei Halbzeiten

Titel: Meine zwei Halbzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Berger
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ehemaligen Stasizentrale in der Normannenstraße/​Ruschestraße, einst Dienstsitz von Erich Mielke. Jetzt war ein Schild
     mit dem Adler der Bundesrepublik angebracht, darunter stand: «Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
     der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik», kurz Gauck-, ab 2000   Birthler-Behörde genannt. Als ich im Innenhof von Haus 1 aus dem Taxi stieg, fuhr gerade ein Shiguli an mir vorbei, das Polizeiauto
     aus DD R-Zeiten . Mir kam es vor, als wäre die gesamte Szenerie gestellt.
    In dem graugelben Gebäude mussten wir im Eingangsbereich alle unseren Pass abgeben, anschließend fuhren wir mit einem Paternoster
     einige Stockwerke hoch. Man führte mich in einen Leseraum, ein ehemaliges Arbeitszimmer von Stasi-Mitarbeitern, in dem ich
     meinen ersten Schock bekam. Die Akten, die man mir aushändigte, übertrafen in ihrer Menge bei weitem das, was ich mir vorgestellt
     hatte. Mit zwölf Ordnern hatte ich nicht gerechnet, nicht alles davon durfte ich einsehen, weil es dritte Personen betraf
     (diese Seiten waren zusammengeheftet, noch nicht geschwärzt). War ich diesem Staat wirklich so wichtig gewesen? «Mit Sicherheit
     sind das noch nicht sämtliche Ordner», sagte der Mann, der mich in den Lesesaal geführt hatte. «Dies sind die Akten, die wir
     bislang zusammentragen konnten.» Später stellte ich fest, dass ich nur jene einsehen konnte, die die kriminellen Machenschaften
     des MfS ausklammerten. Es ist denkbar, dass man noch Zeit gehabt hatte, vor dem Untergang der DDR und der Stasi die besonders
     entscheidenden Zeugnisse der Brutalität verschwinden zu lassen.
    |237| Bevor ich die einzelnen Akten einsehen konnte, erklärte man mir noch die OPs, die sogenannten operativen Vorgänge der Staatssicherheit,
     die «Maßnahmepläne» – dass sie bei mir als «Leder» und «Ball» bezeichnet worden waren, konnte ich nur unter typischen Stasi-Humor
     verbuchen.
    Nach dem ersten Lesen – meine Frau musste die ganze Zeit in einem Raum vor dem Lesesaal bleiben – hatte ich mir einen Eindruck
     darüber verschafft, wie aufwendig, wie intensiv, wie akribisch, aber auch wie oberflächlich und zum Teil falsch mein Leben
     und meine sportlichen Aktivitäten in den Akten wiedergegeben worden waren. Und je länger ich mich mit «Leder» und «Ball» beschäftigte
     – ich bekam später viele Teile davon in Kopie nach Hause geschickt   –, konnte ich erkennen, was ich in meiner großen Vorsicht geahnt hatte: In bestimmten Phasen meines Lebens, meist den erfolgreicheren,
     observierte man mich stärker, es gab aber auch welche, in denen man mich völlig in Ruhe ließ.
    Vieles von dem, was ich las, konnte ich aber auch nicht einordnen. Über manches musste ich lachen, besonders, wenn es um Nichtigkeiten
     ging, etwa wenn man mich nicht mit der eigenen Frau beobachtete, sondern mit einer anderen. Insgesamt zählte ich 21 regelmäßig
     auftretende offizielle Informelle Mitarbeiter, die man auf mich angesetzt hatte, davon neun im Osten. Erschreckend war, schwarz
     auf weiß zu lesen, wie nah die Stasi im Westen an mir dran war. Ich galt, wie ich schon vermutet hatte, als Drahtzieher bei
     den Vorbereitungen wie auch der Flucht, dem «Verrat» von Falko Götz und Dirk Schlegel. War als «Ausschleuser» nicht tragbar
     für die Republik, konnte noch andere Spieler und Trainer abwerben. Man wollte mich kaltstellen, das bestätigte sich nun. Man
     hatte den Plan, einen IM nach Kassel zu übersiedeln, der mich «bearbeiten» sollte. Die DDR und ich, wir hätten niemals Freunde
     werden können.
    Das Schlimmste jedoch war folgende Gewissheit: Zwei mir nahestehende Menschen hatten mich verraten. Ich konnte sie |240| aufgrund der geschilderten Situationen und an ihren schriftlich festgehaltenen Äußerungen erkennen. Das tat weh, ich fühlte
     mich hundeelend. Augenblicklich musste ich die Toilette aufsuchen und mich übergeben. Als ich mich wieder etwas gefangen hatte
     und in den Lesesaal zurückkehrte, schrieb ich sämtliche Decknamen auf, die öfter vorkamen. «Gertrud», «Otto», «Edwin», «Lange»,
     «Georg», «Stefan», «Richter», «Matthias», «Gottfried West», «Kurt Wegner», «Siegfried», «Technik» – jeden einzelnen wollte
     ich aufspüren.
    Die zwei Tage, die ich in dem Lesesaal verbrachte, führten mich zu der Erkenntnis: Hätte ich all das gewusst, was die Stasi
     von mir schon zu meiner Zeit als DD R-Fußballer und -Trainer zusammengetragen

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