Meine zwei Halbzeiten
hatte, ich hätte nie den Mut gehabt, zu flüchten. Ich war kein Held. Die Macht des MfS, die ich in den Akten
spürte, war immens – und ich konnte mir kaum vorstellen, dass das jetzt alles vorbei sein sollte.
Am Ende war ich froh, Akteneinsicht genommen zu haben. Zwar hatte ich zwei Freunde verloren, aber dafür wusste ich nun, mit
welchen Menschen ich aus meinem früheren Umfeld unbefangen umgehen konnte.
Das Wissen um meine beiden «I M-Freunde » führte nach längerem Nachdenken dazu, dass ich mit ihnen über ihr früheres Tun reden wollte. Ich wollte in Erfahrung bringen,
was sie dazu veranlasst hatte, wollte ihnen dabei direkt in die Augen sehen. Den einen, Rolf Gothe, bat ich zu einem Gespräch
zu mir nach Hause. Wir hatten zusammen eine tolle Zeit erlebt, waren in Oberwiesenthal Ski gefahren und hatten in Prerow gezeltet.
Als ich ihn auf seine Stasi-Tätigkeit ansprach, stellte er das Ganze als Lappalie hin, meinte, er habe mir ja nicht geschadet,
letztlich wäre ich in den Westen gekommen und hätte dort meinen Weg machen können.
Ich hielt dagegen: «Es ist nur gut ausgegangen, weil du nichts von meinen Fluchtplänen gewusst hast. Überlege, was passiert |241| wäre, wenn ich sie dir erzählt hätte.» Unmittelbar nach meiner Flucht hatte er all meine Freunde ausgefragt, ob sie etwas
gewusst hätten, und seine Erkenntnisse niedergeschrieben. Und woher besaß er die Frechheit, zu meinen, er wisse, was einem
schaden würde und was nicht? Es gibt nicht nur körperliche Schäden, etwa eine Verhaftung, es gibt auch Vertrauensbruch, Auswirkungen
auf die zurückgebliebene Familie, auf die Freunde, auf das eigene Leben. Das aber zog er überhaupt nicht in Betracht, er verteidigte
weiterhin seine Position. Das Gespräch war damit für mich beendet.
Der nächsten Auseinandersetzung, der ich mich stellen wollte, war die mit Bernd Stange, der unter dem I M-Decknamen «Kurt Wegner» operierte. Er hatte sich seit November 1973 zur Zusammenarbeit mit der Stasi verpflichtet, vierzehn Jahre lang
forschte er Menschen systematisch aus. In dem Buch
Trainer zwischen den Welten
schrieb er: «Im Herbst 1982 wurde von der Stasi die Idee entwickelt, eine Kontaktaufnahme zu arrangieren. Ich sollte in die
BRD, um Jörg abzuholen oder vielleicht herauszubekommen, ob er weitere DD R-Spieler abwerben wollte. Während einer Reise nach Belgien im Dezember verließ mich der Mut, und ich nahm davon Abstand.» 1 «Abzuholen» – eigentlich konnte man das nur als geplante, aber nicht ausgeführte Entführung auslegen. Stange äußerte sich
so offen – er war auch jener Mann, der mich in Kassel «bearbeiten» sollte –, weil ihm bekannt war, dass ich Einsicht in meine Stasiakten genommen hatte. Jupp Kurth hatte beide I M-Mitarbeiter angerufen und ihnen mitgeteilt, dass im
Sportstudio
ein Bericht über meine Akteneinsicht in der Normannenstraße laufen würde. Stange hätte sich mit Sicherheit nicht offenbart,
wäre dieser Fernsehbeitrag nicht gesendet worden.
|242| «Warum hast du das gemacht?», stellte ich ihn bei einer Trainertagung zur Rede. «Deine Beweggründe kann ich nicht nachvollziehen.»
Stange antwortete daraufhin, dass ich das auch nicht verstehen müsse, ich sei ja schon seit vielen Jahren im Westen. Als ich
ihm entgegenhielt, dass er mich observierte, als ich noch in der DDR war, meinte er, alle hätten das tun müssen. Ich sagte
daraufhin: «Bernd, das ist genau das, was ich nicht hören wollte. Warum hast du mich in Kassel im Auftrag deines Führungsoffiziers
angerufen? Weil du karrieregeil bist, weil du geldgeil bist, weil du keinen Charakter hast. Deshalb hast du auch in das System
gepasst.» Mochte das etwas überzogen geklungen haben, ich musste meinen Frust loswerden. Stange hatte gegen mich gearbeitet,
obwohl ich längst im Westen war, aber dann hatte ihn der «Mut» verlassen. Dennoch: Er war bereit gewesen, einen Auftrag anzunehmen,
der die Vernichtung meiner Existenz zur Folge haben sollte – nichts anderes hätte eine «Rückführung» in die DDR bedeutet.
Das musste auch ihm klar gewesen sein.
Für mich stellt es sich so dar: Stange hatte nicht Informationen geliefert, weil er als junger Mensch unter Druck geraten
war, vielleicht Devisenschmuggel betrieben oder einen falschen politischen Witz erzählt hatte. Er gehörte auch nicht zu den
Überzeugten, die daran glaubten wie an das Amen in der Kirche, dass man der DDR helfen und diesen Staat schützen
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