Meine zwei Halbzeiten
Erklärung stimmte mich nachdenklich – früher hätte er solche offensichtlichen Mängel nicht einräumen dürfen. In
den vergangenen Wochen schien in diesem Land etwas passiert zu sein.
In Leipzig angekommen, stieg ich im Hotel Merkur ab. Es lag in der Nähe des Hauptbahnhofs, und ich musste dort mit Westgeld
bezahlen. Da ich nicht mit meinem BMW auftrumpfen wollte, fuhr ich mit dem Taxi zum Bruno-Plache-Stadion. Ich war schockiert
darüber, wie sich der Zustand der meisten Gebäude verschlimmert hatte – vielleicht war aber auch nur mein Blick durch den
westlichen Standard ein anderer geworden und der Verfall |232| vorher nicht anders gewesen. Leipzig wirkte jedenfalls klein, überschaubar und deprimierend auf mich. Eine Dunstwolke lag
über der Stadt, die Autos hatten auf ihren Dächern immer noch eine feine Rußschicht. Einst hatte ich gedacht, dass ich nur
in Leipzig leben könnte, aber auf einmal kam mir dieser Ort nicht mehr wie meine Heimat vor.
Nachdem ich das Stadion in Augenschein genommen hatte, ging ich die wenigen Schritte hinüber zur Wohnung in der Bruno-Plache-Straße,
in der Harriet und Ron weiterhin lebten. Ich hatte so getan, als würde ich sie vom Westen aus anrufen, nur um herauszufinden,
ob sie gerade zu Hause waren. Es war seltsam, in diese Räume zurückzukehren, in denen so vieles angefangen hatte. Entsprechend
befangen blieb die Atmosphäre zwischen uns dreien.
Am zweiten Tag suchte ich die ehemalige Wohnung meiner Eltern in der Reiskestraße auf, danach jene, in der ich einst mit Frieda
ein Zimmer geteilt hatte, ging anschließend ziellos durch die Innenstadt. Von meinen Freunden wollte ich niemanden treffen,
bislang war ich nicht so weit.
Als ich nach diesem Wochenende wieder in Dreieichenhain war, fragte Chris: «Und? Wie verlief deine Reise in die Vergangenheit?»
Meine Antwort: «Ich habe die DDR noch nicht verarbeitet. Aber ich weiß heute, dass ich mit meiner Flucht alles richtig gemacht
habe.» Ich sagte auch – und später sogar öffentlich –, dass ich mir nicht vorstellen könnte, noch einmal im Osten zu arbeiten. Das war ein großer Fehler, denn die Menschen dort
fühlten sich – zu Recht – brüskiert und angegriffen. Eine gewisse Überheblichkeit konnte mir nicht abgesprochen werden. Als
ich 2004 Coach beim FC Hansa Rostock wurde, hielt man mir diese Aussage nicht nur einmal vor. Zur allgemeinen Beruhigung erwiderte
ich daraufhin: «Ich fühle mich hier nicht mehr wie im Osten, sondern im Norden Deutschlands.»
Einige Monate später unternahm ich eine weitere Fahrt nach |233| Leipzig zu meinen langjährigen Freunden. Das Wiedersehen nach zehn Jahren feierten wir mit einer bis in die frühen Morgenstunden
dauernden Vereinigungsfete. Hinterher machte ich einen Abstecher nach Jena, um Bernd Stange zu besuchen, der mich sehr herzlich
empfing. Nachdem wir stundenlang vergangene Erlebnisse ausgetauscht hatten, fuhren wir zusammen zum Ernst-Abbe-Stadion, wo
ich einige frühere Fußballer vom FC Carl Zeiss Jena treffen sollte.
Es gab ein großes Hallo, danach wollte ich unbedingt den «roten Salon» sehen, den wir so genannt hatten, weil er mit einer
roten Tapete ausgekleidet war. In ihm hingen Bilder, die die Geschichte des Vereins dokumentierten, viele gewonnene Pokale
waren ausgestellt. Erstaunt blieb ich vor einem Foto stehen, das man 1974 aufgenommen hatte, anlässlich eines wichtigen Tages
für den Club: Der FC Carl Zeiss Jena ging aus einem Finale gegen SG Dynamo Dresden – gespielt wurde in Leipzig – als Pokalsieger
hervor. Damals bekleidete ich in dem Kollektiv mit Cheftrainer Hans Meyer und Assistenztrainer Bernd Stange die Position des
sogenannten Trainerpraktikanten. Mir fiel in diesem Moment ein, dass ich bei der Aufnahme in der hinteren Reihe, direkt neben
Meyer, gestanden hatte. Während ich mir das Bild genauer betrachtete, merkte ich, dass der Mann, der sich neben dem Cheftrainer
befand, nicht mit mir identisch war. Da stand ein anderer! Zwar trug dieser Mensch Krawatte und Sakko, die mir bekannt vorkamen,
auch der Körper war eindeutig mein eigener, nur der Kopf, der hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit mir. Wie versteinert schaute
ich mir das Gesicht an.
«Hey, kommt mal her und seht euch das an! Wer ist denn der Typ neben dem Meyer?», fragte ich erstaunt, wohl wissend, dass
der Kopf Dr. Manfred Dreßler gehörte, er hatte mit in der damaligen Mannschaft gearbeitet.
Alle wurden
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