Meine zwei Halbzeiten
Schwimmbad zu gehen. Um uns herum waren lauter hübsche
Mädchen, doch Ron würdigte sie keines Blickes. Nicht, weil er sich nicht für Frauen interessierte, aber er beobachtete nur
mich. Wäre ich an seiner Stelle anders gewesen? Wahrscheinlich schon.
|227| In den beiden folgenden Tagen taten wir so, als wären wir uns nah, doch es stimmte nicht. Als wir uns voneinander auf dem
Bahnhof verabschiedeten, weinte ich. Ich wusste nicht, wann ich meinen Sohn wiedersehen würde, und die Begegnung mit ihm hatte
ich trotz aller Freude als sehr belastend empfunden. Mehr und mehr realisierte ich, was es bedeutete, dass ich Ron allein
in der DDR zurückgelassen hatte. Nie hatte er einen richtigen Vater gehabt. Aber immerhin eine Mutter, die alles tat, beide
Elternteile zu ersetzen. Ich versuchte, ihm das noch in unseren letzten Minuten auf dem Bahnsteig zu sagen, doch ich fand
nicht die richtigen Sätze.
Ron sah mich nur lange an. Er hatte in den Stunden mit mir immer wieder registriert, dass sein Vater von ost- und westdeutschen
Touristen auf der Straße erkannt und angesprochen wurde, man gratulierte mir zu meinem Erfolg bei der Eintracht. Einen Tag
verließen wir sogar die Stadt, um ungestört zu sein. Dabei ließ ich ihn auf einer einsamen Straße ans Steuer meines BMW –
wobei er fast noch einen Unfall baute. Später sagte er mir über unser Treffen: «Ich hatte nicht einen Vater, sondern einen
Hauptgewinn bei einem Kreuzworträtsel gewonnen: drei Tage mit einem Bundesligatrainer in Prag.» Das tat weh!
Bald schon sollte ich meinen Sohn wiedersehen. Kaum eine Woche nach dem Fall der Mauer, ich war gerade in Köln bei einem Qualifikationsspiel
gegen Wales, da wurde ich in der Halbzeit im Stadion ausgerufen. Als ich mich an der Informationsstelle meldete, sagte man
mir, ich solle meine Frau in Dreieichenhain anrufen. Ich bekam einen großen Schreck, dachte sofort, dass das Haus abgebrannt
sei oder unter Wasser stand. Ich eilte zum nächsten Telefon. Aufgelöst sagte meine Frau: «Komm nach dem Spiel bitte sofort
nach Hause» – eigentlich hatte ich in Köln bleiben wollen –, «Ron ist bei uns.»
Wie oft hatte ich in den letzten Tagen daran gedacht, meinen Sohn zu besuchen. Doch noch glaubte ich nicht wirklich an den |228| Fall der Mauer. Bestimmt würde die Grenze wieder geschlossen werden, natürlich dann, wenn ich im Osten war. Etwas anderes
konnte ich mir nicht vorstellen.
«Wie lange willst du denn bleiben?», fragte ich meinen Sohn, dabei blickte ich auf einen ziemlich großen Koffer, den er mitgebracht
hatte.
«Am liebsten möchte ich für immer hierbleiben.»
Das war eine Antwort, die mich einerseits freute, mir andererseits Sorgen bereitete. «Aber deine Mutter wartet auf dich»,
sagte ich, nicht so genau wissend, was ich eigentlich hätte antworten sollen. «Wir können uns doch jetzt jederzeit sehen.»
«Ich traue der ganzen Sache nicht. Mit der Grenzöffnung sind sie die Menschen losgeworden, die sie sowieso nicht haben wollten.
Das war eine Art Säuberungsaktion. Wenn sich alles geregelt hat, ziehen die bestimmt wieder die Mauer hoch.» Wir beide hatten
also prinzipiell den gleichen Gedanken. Ich zweifelte allerdings daran, dass die DDR freiwillig auf Devisen verzichten wollte,
die sie durch den Freikauf von Bürgern erhielt. Doch um dieses Problem ging es jetzt nicht. Ich musste meinen Sohn davon überzeugen,
seine Schule in Leipzig zu Ende zu bringen. Das gelang mir schließlich auch. Danach versprach ich, ihn in den Westen zu holen,
wenn er es nach dem Abitur denn noch wolle, und ihn in jeder Hinsicht zu unterstützen.
Für mich bedeutete die Wende, dass ich meine Einstellung zur alten Heimat überdenken musste. In den letzten zehn Jahren hatte
ich eine eindeutige Position entwickelt: Ich hatte nicht mit den Menschen in diesem Staat abgeschlossen, sondern mit dem System.
Und auf einmal gab es die DDR wieder, kehrte einfach in mein Leben zurück. Allein durch die Tatsache, dass ich in den Osten
reisen konnte. Doch dazu war ich erst einmal nicht bereit. Die Grenzen waren zwar offen, aber noch gab es die Grenzbeamten,
das Militär, die Staatssicherheit. Im Oktober 1989 hatte man |229| bekannt gegeben, dass Honecker von allen Ämtern zurücktreten würde, aber danach folgte das breite Grinsen von Egon Krenz,
wenn auch nur für wenige Wochen. Ich blieb misstrauisch, was das ganze Politpersonal betraf. Letztlich waren die meisten Köpfe
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