Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Meine zwei Halbzeiten

Titel: Meine zwei Halbzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Berger
Vom Netzwerk:
der Kneza Miloša 76 hinterlegt. Man wollte sie
     mir nachschicken, wenn ich in der Bundesrepublik angelangt war. Wenn!
    «Gute Fahrt», wünschte mir mein Begleiter zum Abschied. |30| «Und bleiben Sie ruhig, Herr Berger. Sie können sich als Deutscher ausweisen, als ein Bürger der Bundesrepublik.»
    «Danke für alles», sagte ich. «Eine Frage noch: Wie lange dauert die Zugfahrt bis zur österreichischen Grenze?»
    «Zwölf Stunden.»
    Ich musste tief Luft holen. Zwölf Stunden! Damit hatte ich nicht gerechnet. Erst bei Sonnenaufgang würden wir in Klagenfurt
     sein. Aber was sollte ich darüber nachdenken, eine andere Wahl hatte ich nicht.
    Der «Orient-Express» setzte sich in Bewegung, die zweite nervenaufreibende Zugreise an diesem Tag begann.
    Ich machte mich auf die Suche nach dem Schaffner und musste durch mehrere Waggons laufen, bis ich ihn entdeckt hatte. «Haben
     Sie ein Schlafabteil für mich?», sprach ich ihn auf Deutsch an. Die Vorstellung, mit fünf anderen Personen zwölf Stunden lang
     auf dem für mich reservierten Platz zu sitzen, war mir unerträglich. Zu sehr hatte ich in den letzten Tagen unter Strom gestanden,
     eine derart lange Reise in einem Sechserabteil würde ich nicht durchhalten. Und sollte dabei mein ganzes Geld draufgehen –
     ich wollte nur noch allein sein, von niemandem angestarrt werden.
    Der Mann antwortete: «Sämtliche Schlafwagen sind belegt. Aber ich kann Ihnen ein Liegewagenabteil für Sie allein anbieten.»
    Auch gut. Er führte mich den schmalen Gang hinunter, bis er ein leeres Abteil aufschloss. Ich gab ihm den verlangten Aufpreis.
     Am Ende hatte ich vielleicht noch dreißig Mark übrig.
    Als der Zugschaffner verschwunden war, verriegelte ich die Tür. Danach zog ich sämtliche Vorhänge zu und setzte mich ans Fenster.
     Vorsichtig schob ich einen Vorhang beiseite und blickte aus dem Zug. Draußen war es dunkel, einzelne Lichter blitzten auf,
     Straßenlaternen Belgrader Vororte. Die Eisenbahnbrücke über die Save mussten wir schon überquert haben. Ich überlegte, |31| ob das Länderspiel wegen meiner Flucht abgesagt worden war. Wie ich später erfuhr, war das nicht der Fall. Meine Mannschaft
     verlor unter dem «Trainer» Klaus Petersdorf mit einem 0   :   2.
    Einige Zeit später klopfte es an der Abteiltür. Ich zuckte heftig zusammen. Es war aber nur der Schaffner, der fragte, ob
     er mir etwas bringen könne.
    «Drei Flaschen Bier und eine Dose Cola», sagte ich. Vielleicht konnte ich durch das Bier ein wenig ruhiger werden, das Erfrischungsgetränk
     brauchte ich für einen anderen Zweck. Der Mann beobachtete mich genau, er war mir nicht geheuer. In meiner Lage sah ich in
     jedem Menschen nur einen Mitarbeiter der Mielke-Behörde.
    Als er wieder verschwunden war, lauschte ich den Geräuschen des Zuges. Weiter. Weiter. Weiter. Bitte nicht stehen bleiben.
     Nur weiter.
    Nachdem der Schaffner alles gebracht hatte, leerte ich zuerst die Cola-Dose, danach kamen die Biere dran, eines nach dem anderen.
     Entspannter fühlte ich mich dadurch jedoch nicht, zu viel Adrenalin strömte wohl durch meinen Körper. Als ich den Druck auf
     der Blase nicht mehr aushalten konnte, erleichterte ich mich in die leere Getränkedose und warf sie anschließend aus dem Fenster.
     Nicht gerade die feine Art, aber in meiner Not sah ich keinen anderen Ausweg. Niemand sollte mich bei einem Gang auf die Toilette
     entdecken können, niemand mit dem Finger auf mich zeigen: «Da ist der Berger, der wird gesucht, das stand sogar heute Abend
     in der Zeitung.»
    Krampfhaft versuchte ich, alle in mir auftauchenden Schreckensbilder zu verdrängen. In wenigen Stunden würde ich es wissen:
     West-Freiheit oder Ost-Knast.
    Nach einer mir unendlich lang vorkommenden Fahrt, in der ich wieder nicht eine Sekunde geschlafen hatte, wurde es draußen
     hell. Ich zog die Vorhänge zurück. Draußen schlängelte sich ein Fluss durch die gebirgige Landschaft, und ich überlegte, ob |32| dies schon ein Grenzfluss sein könnte. Meiner Uhr zufolge mussten wir bald Österreich erreichen.
    Kurz darauf hielt der Zug tatsächlich, und einige Grenzer stiegen mit Schäferhunden ein. Es dauerte eine Weile, bis einer
     von ihnen meine Abteiltür aufriss. Als Erstes ließ er den Hund herein, der an mir herumschnüffelte.
    «Wo haben Sie Ihr Gepäck?», fragte der Beamte.
    «Gestohlen.» Mehr brachte ich nicht hervor.
    Daraufhin verließen Mann und Hund das Abteil. Was hatte das zu bedeuten? Dass es sich bei dem

Weitere Kostenlose Bücher