Meine zwei Halbzeiten
Kapitän den Auftrag, neben verwundeten Soldaten auch Zivilisten, die vor den näher
kommenden sowjetischen Truppen flüchteten, ins westliche Deutschland zu bringen.
Peter, wie meine Mutter genannt wurde – sie war 1915 in Leipzig als Gertrud Marie Petersson zur Welt gekommen –, hatte wie alle aus ihrer Umgebung Angst vor der Roten Armee, wollte ebenfalls fliehen, um sich und ihr Kind in Sicherheit
zu bringen. Mein Vater Franz, den sie im März 1943 geheiratet hatte, befand sich zu diesem Zeitpunkt als Soldat im Kessel
von Danzig, mithin nicht weit von uns entfernt. Während eines Heimaturlaubs war ich gezeugt und im Oktober 1944 an einem Freitag,
den 13., in einem Krankenhaus in Klein Katz bei Danzig geboren worden.
Eine Freundin meiner Mutter, Lissy, hatte ein fast gleichaltriges Kind, den heute bekannten Bielefelder Jugendforscher Professor
Klaus Hurrelmann. Gemeinsam mit ihr wollte sie die Flucht wagen. «Macht das nicht! Das Schiff ist völlig überfüllt, es sind
20 Grad minus, für Säuglinge ist das nichts!» Von mehreren Seiten kam der Rat, einen anderen Fluchtweg zu suchen. Schließlich
fügten sich die Frauen. Sie tauschten ihre begehrten Schiffs- gegen Bahnkarten. Man hatte ihnen gesagt, dass es noch einen
letzten Zug von Gotenhafen aus Richtung Leipzig geben würde.
Die Fahrt mit dem Zug verlief, wie mir meine Mutter später erzählte, nicht ohne Schwierigkeiten. Mehrmals blieb er auf der
Strecke stehen und wurde immer wieder bombardiert, einmal so |37| heftig, dass ein Waggon ausbrannte. Einen weiteren Schrecken bereitete ich ihr. Die Temperaturen in den Zügen waren weit unter
dem Minuspunkt, die Heizungen funktionierten längst nicht mehr, und irgendwann machte ich, ohne dass meine Mutter es mitbekam,
in meine Windel – was dazu führte, dass der nasse Inhalt zu Eis wurde und ich auf der Holzbank festfror. Größeren Schaden
habe ich davon jedoch nicht genommen – glaube ich zumindest.
Nach mehreren Tagen Fahrt erreichte der Zug schließlich Leipzig. Dort erfuhr meine Mutter, dass die «Gustloff» am 31. Januar, kurz nachdem sie den Hafen verlassen hatte, von einem U-Boot der Roten Armee torpediert worden war. Das Passagierschiff sank in etwas mehr als einer Stunde, von den über 10 000 Menschen an Bord konnten nur 1252 gerettet werden. Die Katastrophe war in ihren Ausmaßen schlimmer als der Untergang der «Titanic».
Von Leipzig aus schlug sich meine Mutter mit mir auf dem Arm zu «Opa» durch, der kein wirklicher Großvater von mir war, sondern
ein weitläufiger Verwandter meines Vaters. Ich habe ihn aber immer «Opa» genannt, vielleicht auch deshalb, weil ich meinen
wirklichen Großvater väterlicherseits nie kennengelernt habe. Er starb schon 1939, nicht einmal an seinen Namen kann ich mich
entsinnen.
Opa lebte in Lindhardt, einem kleinen Dorf bei Naunhof, das eine gute halbe Stunde Zugfahrt von Leipzig entfernt liegt. Die
letzte Strecke musste man zu Fuß durch einen Wald laufen, bis man sein Haus erreichte, das auf einer Lichtung stand. Es lag
so abgeschieden, weil Opa von Beruf Förster war. Vier Jahre blieben wir bei ihm und seinen Tieren. Meine Mutter hätte auch
bei ihrer Schwiegermutter unterkommen können, die in Leipzig wohnte. Aber es schien ihr sicherer zu sein, auf dem Land zu
leben und nicht in einer Großstadt.
Obwohl wir in Lindhardt die letzten Kriegsmonate und die ersten Nachkriegsjahre verbrachten – für die meisten Menschen in
Deutschland unglaublich schwere Zeiten –, erscheint mir das |38| Forsthaus in der Erinnerung wie ein Paradies. Die Försterei umfasste viele Wiesen und ein großes Waldgelände, in dem ich herumstromern
konnte; auch gehörten zu ihr mehrere Hunde, die meine besten Spielkameraden waren. Ich freundete mich sogar mit einem Fuchs
an, den Opa großgezogen hatte und der, ganz zahm geworden, ständig in der Nähe der Försterei herumlief. Und natürlich gab
es genug zum Essen, Fleisch, Milch und die verschiedensten Obstsorten.
Als mein Vater 1949 aus der russischen Gefangenschaft zurückkehrte, entschied er, dass wir nach Leipzig umziehen sollten,
in jene Stadt, die auch seine Geburtsstadt war. Unser neues Zuhause befand sich in einem Wohnblock in der Reiskestraße 7. Doch dort bezogen meine Eltern keine eigene Wohnung, sondern quartierten sich bei Frieda «Minna» Berger ein, der Mutter meines
Vaters. Für mich, damals vier Jahre alt, war der Abschied vom unbeschwerten
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