Meineid
Vorabendprogramm. Detektivgeschichten und heitere oder besinnliche Episoden aus dem Alltag von Großfamilien, Tierärzten und Landpfarrern. Alles, wovon man annimmt, es könne dem Zuschauer die Welt zeigen, wie er sie gerne hätte, heil, überschaubar, niedlich, putzig, witzig. Eine Welt, in der es von edlen Menschen nur so wimmelt und Probleme in den fünfundvierzig Minuten gelöst werden, in denen sie auftauchen. Das füllte Jan natürlich nicht aus. Er träumte davon, einen großen Roman zu schreiben. Sein Vorbild war der amerikanische Erfolgsthriller
«Aus Mangel an Beweisen, von Scott Turow. Am besten gefiel Jan, dass der Anwalt Sandy Stern seinen Mandanten Rusty Sabich nicht fragte, ob er schuldig oder unschuldig sei. Die Geschichte, die Jan schreiben wollte, hatte mit seinem Vorbild herzlich wenig zu tun. Wenn man davon absah, dass auch bei Jan eine junge Frau sterben musste und die Handlung in Form eines Prozesses angelegt sein sollte. Nur wollte Jan keinen Strafprozess schildern, ihm schwebte ein Revisionsverfahren vor, in dem ein unschuldig Verurteilter rehabilitiert wird. Scheu und zurückhaltend, wie es nun einmal seine Art war, erkundigte er sich, ob Greta bereit sei, ihm ein paar Auskünfte zu geben. Von Juristerei habe er keine Ahnung, es helfe ihm auch nicht, sich in Gerichtssäle zu setzen und dort zuzuhören. Ihm gehe es für seinen Roman ja mehr um das, was sich hinter den Kulissen abspiele. Selbstverständlich war Greta bereit. An wie vielen Abenden sie zusammengesessen und über das Konzept für seinen Roman gesprochen haben, kann ich ziemlich genau sagen, mindestens viermal pro Woche. Schon kurz nach seinem Einzug schrillten bei mir sämtliche Alarmglocken. Greta hatte kaum noch Zeit, einen Abend mit mir zu verbringen. Sie musste Jan unbedingt die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Strafrecht erklären. Und dass sie nicht so dachte wie der exzellente Romananwalt Sandy Stern. Sie wollte wissen, ob ein Mandant getan hatte, was die Staatsanwaltschaft ihm vorwarf. Dass es aber unbestreitbar ein paar Vorteile für das eigene Gewissen haben mochte, sich nur auf die Fakten zu konzentrieren, welche die Gegenseite vorbringen konnte. Vor allem, wenn es um Mord ging. Und jeden Abend hoffte sie, mit ihm vom Wohnzimmer oder der Terrasse ins Schlafzimmer zu wechseln. Dazu kam es glücklicherweise nicht. Greta glaubte zu wissen, woran es lag. Als Jan die Wohnung neben ihr bezog, war er allein. Ein gut aussehender Mann im selben Alter wie ich. Vierunddreißig Jahre, mittelgroß, leicht untersetzt, dichtes, dunkles Haar, graue Augen. Ein markantes Gesicht, das zur Hälfte unter einem Vollbart versteckt lag, kräftige Hände, breite Schultern. Dafür prädestiniert, einer Frau das Gefühl zu geben, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. So ein Mann ist normalerweise nicht allein. Es sei denn, er hätte gerade eine böse Enttäuschung erlebt und Angst vor einer neuen Bindung. Diese Angst, fand Greta, sei bei Jan offensichtlich. Ich sah nie etwas an ihm, was auch nur entfernt irgendeiner Form von Angst gleichgekommen wäre. Auf mich wirkte er anfangs wie ein gehetzter Hund. Er sprach in knappen, stockend vorgebrachten Sätzen. Und die Erfahrung mit unseren Hobbymandanten hatte mich gelehrt, wo man sich diese Art zu sprechen vorzugsweise aneignet – in Polizeiverhören. Der Rest passte auch dazu. Jan rauchte sehr viel, eine der starken, filterlosen Marken. Er schaffte es nicht, einem Blick länger als zwei Sekunden standzuhalten, betrachtete die meiste Zeit seine Hände, wenn man sich mit ihm unterhielt. Nur wenn er sich unbeobachtet fühlte, schaute er einen an – unter halb gesenkten Lidern. Aber egal, was er tat oder unterließ, Greta sah in allem sichere Anzeichen für ihre Vermutung, dass man ihn sehr verletzt hatte. Seine Wohnung schien seinen seelischen Zustand widerzuspiegeln. Sie war mehr als dürftig eingerichtet. Sie war vom Schnitt her fast identisch mit ihrer, hatte nur ein Zimmer weniger, sodass Jan den Wohnraum auch als Arbeitszimmer nutzen musste. Da ich Greta mehr als einmal bei ihm abholen durfte, hatte ich ausreichend Gelegenheit, mich bei ihm umzuschauen. In der Ecke beim Fenster stand ein billiger Schreibtisch mit dem Computer und einem bequemen Stuhl. Darüber hing ein Regal mit der Diskettenbox und ein paar Büchern, viele waren es nicht. Der leidige Scott Turow, die Strafprozessordnung und Computerhandbücher. Ansonsten gab es im Wohnraum nur noch die Sitzgarnitur
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