Meineid
Erkenntnissen. Innerhalb dieser sechs Monate lernte sie Jan so gut kennen, bildete sich das jedenfalls ein, und war sich ihrer Sache völlig sicher. Er war der Mann, mit dem sie leben konnte und wollte. Er hatte etwas an sich, was einerseits den Eindruck von Stärke vermittelte: der Mann, in dessen Arme man flüchtet, wenn man das Bedürfnis nach Ruhe hat; der Mann, der die Stärke zurückgibt, die man nach einem hektischen Tag oder einer Niederlage vor Gericht verloren hat. Andererseits war er schutzbedürftig wie ein verstörtes Kind, das nur darauf wartet, von der Mutter in die Arme genommen und getröstet zu werden. Ich konnte mir das nur anhören, weil der starke, schutzbedürftige Mann keine Anstalten machte, Greta näher zu kommen, als das Lesen seiner grauenhaften ersten Romanszene es erforderte. * Als Greta endlich aufs Ganze ging, wurde es ein Reinfall erster Güte. Ich erfuhr sowohl von ihren Plänen als auch von der Ausführung und dem Ergebnis. Ihr schwebte eine romantische Verführung vor, alles war bis ins kleinste Detail durchdacht. Anfangs schien sie damit sogar erfolgreich zu sein. Sie machte eine zarte Andeutung und überließ ihm die Initiative. Die ergriff er. Es kam zu zwei oder drei Küssen auf der Couch. Zurückhaltende Küsse, vorsichtig und scheu, nicht so, wie sie es erwartet hatte. Mit den Händen war er noch zurückhaltender, er ließ sie an ihrem Hals, was ihr irgendwie merkwürdig erschienen sein muss, sonst hätte sie es kaum so eigenartig betont. Nach einer halben Stunde erhob Jan sich abrupt und verabschiedete sich mit den Worten:
«Es tut mir Leid, Greta, aber ich glaube nicht, dass es viel Sinn hat. Ich bin nicht in der richtigen Stimmung. Mir geht die Szene nicht aus dem Kopf.»
Mit der Szene hatte wie üblich ihr Abend begonnen. Als sie ihm die Tür öffnete, hielt er ein paar Seiten in der Hand und verkündete, diesmal habe er es. Greta musste sich augenblicklich auf ihre Couch setzen und lesen. Und kaum hatte sie die ersten drei Sätze überflogen, fragte er bereits:
«Na, wie ist es diesmal?»
«Und wie war es?, fragte ich, als sie mir den Abend schilderte. Sie zuckte mit den Achseln.
«Scheußlich wie immer.»
Diesmal waren es zur Abwechslung zwei Männer, die sich über die Neunzehnjährige hermachten. Einer brach ihr im Wagenfond genüsslich sämtliche Finger und flößte ihr gewaltsam Unmengen von Alkohol ein, während der andere das Auto an ein einsames Plätzchen chauffierte. Dort wurde sie von beiden Männern vergewaltigt, bewusstlos geprügelt, hinter das Lenkrad des Wagens gezerrt und angezündet. Und das in allen Einzelheiten. Greta hatte ihn gefragt, ob ihm eigentlich nichts Besseres einfalle, was man mit einer jungen Frau tun könne. Rückblickend fand sie, so zart sei ihre Andeutung wohl doch nicht gewesen. Aber immerhin habe er verstanden und hoffentlich auch begriffen, wie viel er ihr bedeute. Ich wollte verhindern, dass sie einen zweiten Versuch unternahm, und wagte ebenfalls eine Andeutung. Aber der Verdacht hatte sich mir schon vor einer Weile aufgedrängt und begründete sich nicht allein in meiner Eifersucht. Seine Hand an ihrem Hals würgte mich.
«Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass es eine konkrete Vorlage für die Neunzehnjährige gegeben haben könnte?»
Greta schaute mich verständnislos an.
«Du meinst, dass er einen realen Kriminalfall zur Grundlage nimmt?»
«Genau das», sagte ich. Sie schüttelte den Kopf.
«Das hätte er mir längst gesagt, in der Hoffnung, dass ich ihm Einblick in die Akten verschaffen könnte.»
«Vielleicht kennt er die Akten», sagte ich.
«Oder der Fall ist nie aktenkundig geworden.»
Greta stutzte, ihre Tonlage wurde um eine Spur schärfer.
«Wie meinst du das, Niklas?»
«Wie ich es sage. Vielleicht kommt er nur über die erste Szene nicht hinaus, weil es keine weiteren Szenen gibt. Vielleicht liefert er nur keine Erklärung zur Motivation des Täters, weil er der Ansicht ist, dass seine Motive uns einen Dreck angehen. Es soll Autoren geben, die autobiographisches Material verarbeiten.»
Greta lächelte kühl.
«Und es soll Anwälte geben, die sich auf den Spatz in ihrer Hand besinnen, wenn sie erkennen, dass die Taube auf dem Dach nicht erreichbar ist. Fürchtest du um meine Verfügbarkeit?»
«Ich fürchte nur, dass du eine böse Überraschung erlebst, wenn Jan seine Hemmungen eines Tages fallen lässt.»
«Das lass nur meine Sorge sein, erklärte sie und probierte ihr Glück einige
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