Meineid
solchen Schrauben verletzen, nie wieder in eine Maschine geraten, die Kneifwunden verursachte, welche aussahen wie Verbrennungen. Tess würde nie wieder mit einem Armband in der Waschmaschine hängen bleiben, nie wieder eine Uhr tragen, deren Band die Haut aufscheuerte. Sie würde nie wieder in der Sauna von einer Wespe gestochen werden, sich nie wieder die Schenkel verbrühen, weil sie einen Topf fallen ließ, nie wieder irgendetwas erzählen, um von Tatsachen abzulenken oder die Wahrheit zumindest so zu verfremden, dass man sie nicht erkannte. Tess lag auf der Terrasse und war tot. Ihre Tess! Die Pausenbrote getauscht, die Mathematikaufgaben voneinander abgeschrieben, die Limonade und die erste Liebe in der fünften Klasse redlich miteinander geteilt, die Köpfe zusammengesteckt, gewispert, getuschelt. In einem Bett geschlafen, bunte, wilde Zukunftspläne geschmiedet. Und später das Lachen in einer Eisdiele, die Tränen im dunklen Kino. Lovestory. Alles vorbei. Der rothaarige Springinsfeld an ihrer Seite existierte nicht mehr. Der lustige Vogel, der nichts weiter gewollt hatte als gut und aufregend leben. Der sich nie etwas dabei gedacht hatte, Märchen zu erzählen. So viele Märchen in all den Jahren. Wie mit einem Blitzlicht ausgeleuchtet sah Greta sich neben Tess in der Schule sitzen. Religionsstunde im Advent. Die Herzenswünsche ins Schulheft geschrieben. Sie sah Tess nach vorne gehen zum Pult der Lehrerin. Sah den Hilfe suchenden Blick in ihre Richtung, hörte die Kinderstimme sagen:
«Ich weiß nicht, wie es gekommen ist.»
Greta wusste es auch nicht. * Es war Karreis’ Aufgabe, herauszufinden, wie es gekommen war. Er bequemte sich endlich in die Diele hinunter, von Gretas Ausbruch überrascht und betroffen. Er telefonierte jedoch nicht nach einem Arzt, schlenderte hinaus auf die Terrasse, als ginge ihn das alles nichts an. Greta blieb mit Jan auf der Treppe zurück, setzte sich auf eine der Stufen, drückte ihn auf die Knie nieder und hielt ihn mit beiden Armen fest. Sie weinte – ob um Tess, aus Hilflosigkeit oder um das hehre Ziel, mit dem sie sich als Zehnjährige entschlossen hatte, diesen Beruf zu ergreifen – nur Unschuldige zu verteidigen – das wusste sie selbst nicht. Es war auch nicht mehr wichtig. Jan knirschte immer noch mit den Zähnen, presste seine Stirn so fest gegen ihren Magen, dass ihr übel wurde. Feibert kam an ihnen vorbei und ging ebenfalls nach unten. In der Diele blieb er stehen, schaute zu ihr hinauf.
«Einen bestimmten Arzt?, wollte er wissen.
«Kennen Sie seinen Hausarzt? Oder soll ich einen Krankenwagen rufen?»
«Nein, nur einen Arzt, bat sie.
«Irgendeinen.»
Feibert verließ das Haus für ein paar Minuten. Als er zurückkam, bat sie ihn:
«Können Sie noch jemanden anrufen?»
Begeistert war er nicht.
«Wen?, fragte er knapp. Wie sollte sie mich bezeichnen in dieser Situation? Meinen Kollegen, meinen Partner, meinen Lebensgefährten, meinen Liebhaber?
«Meinen Mann», sagte sie. Schade, dass ich nicht dabei war. Ich hätte es so gerne einmal gehört aus ihrem Mund.
«Niklas Brand. Wir sind zwar nicht verheiratet, aber …»
Wir wären es ja fast einmal gewesen. Und ich hatte sie in den vergangenen beiden Jahren immer wieder bedrängt, hatte mich nicht mehr an die Abmachung gehalten. Erst vor ein paar Wochen hatte ich es noch versucht.
«Jetzt sei doch nicht so nachtragend, Greta. Ich will ja gar nicht geliebt werden. Aber warum sollen wir nicht einmal darüber nachdenken, ein paar Mark Steuern zu sparen? Oder hoffst du immer noch auf die Liebe deines Lebens?»
Die Liebe ihres Lebens! Etwas, das ich nicht verstand. Feibert verstand und nickte.
«Geben Sie mir die Nummer.»
Dann ging er erneut hinaus, war nach zwei Minuten zurück und erklärte mit einem Achselzucken:
«Da meldet sich niemand.»
Diese Auskunft brachte Greta halbwegs zu sich selbst zurück. Sie war nicht länger hilflos, sie wurde wütend. Wo zum Teufel steckte ich denn mitten in der Nacht? Es war eine so gute Idee gewesen, mich durch die Polizei informieren zu lassen. Es passte besser zu ihrer Version. Um halb elf ins Haus gekommen und die Tote gefunden. In solch einer Situation denkt man nicht daran, sämtliche Freunde und Bekannte anzurufen. Man kann gerade noch tun, was notwendig ist; die Polizei alarmieren. Und die erledigt den Rest. Greta war überzeugt, es mir nicht selbst sagen zu können. Doch als ich kam, konnte sie sehr wohl. Es war kurz vor Mitternacht, als ich in
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