Meineid
die Straße einbog und den Fuhrpark vor dem Haus sah. Die halbe Nachbarschaft war zugeparkt mit Fahrzeugen. Der uniformierte Wachposten wollte mich nicht ins Haus lassen. Ein paar Minuten vorher war der von Feibert alarmierte Arzt erschienen und hatte Greta erneut in Panik versetzt. Er war ein sehr eleganter, älterer Herr im mitternachtsblauen Anzug, sah aus, als hätte man ihn von einem Festbankett geholt. Das übliche Köfferchen hatte er nicht bei sich, nur eine schmale Tasche. Er sprach kurz mit Feibert, stieg die Treppe hinauf und setzte sich neben Jan. Gretas Ansicht, Jan habe ein Kreislaufproblem, teilte er nicht. Jans Blutdruck zu messen, hielt er für überflüssig. Er sprach Jan nur an mit einer freundlichen, warmen Stimme, die auf ihn einrieselte, vielmehr an ihm vorbeirauschte, ohne Wirkung zu zeigen. Dann wandte er sich an Greta:
«Seit wann ist der Mann in dieser Verfassung?»
«Seit halb elf ungefähr.»
«Und vorher?»
«War er normal. Er war sehr aufgewühlt. Aber das ist ja wohl normal, wenn man heimkommt, und …»
Sie konnte nicht weitersprechen. Der Arzt hatte einen so stechenden Blick, dass sie befürchtete, er bohre sich damit in ihre Gedanken. Die sanfte Stimme passte nicht dazu.
«Möchten Sie ein Beruhigungsmittel?»
«Nein, ich brauche nichts, behauptete sie.
«Es geht schon. Vielen Dank. Ich bin in Ordnung.»
Das war sie nicht. Unter seinem Blick schnürte ihr die Furcht Hirn und Kehle gleichermaßen zusammen. Aber sie wollte sich nicht mit irgendeinem Mittelchen außer Gefecht setzen lassen. Nicht mehr Herrin ihrer Sinne sein, die Gedanken nicht beisammenhalten können war für Greta der blanke Horror. Lieber wäre sie erstickt an ihrer Angst. Der Arzt erhob sich, schaute nach unten. Feibert stand am Fuß der Treppe und ließ sie nicht aus den Augen. Der Arzt strich ein paar nicht vorhandene Falten an seinem Anzug glatt und sagte zu Feibert:
«Das hat so nicht viel Sinn. Ich muss ihn mitnehmen.»
«Das kommt überhaupt nicht in Frage, protestierte Greta. Auf gar keinen Fall wollte sie Jan in eine Klinik schaffen lassen, wo er voll gepumpt mit Medikamenten, hilflos, wehrlos und willenlos den Fragen ausgeliefert wäre. Das konnte sie sich nicht leisten. Der Arzt kümmerte sich nicht um sie. Er stieg hinunter zu Feibert und sprach mit ihm. Feibert wollte wissen, was mit Jan los sei. Die Antwort des Arztes gefiel ihm nicht. Nervenzusammenbruch.
«Kommen Sie mir nicht mit Allgemeinplätzen, erklärte Feibert.
«Ich denke, Sie sind Facharzt.»
Der Arzt konterte mit herablassender Überheblichkeit, nannte einen Fachausdruck für Jans Zustand, den Greta nicht richtig verstand, der Feibert aber sichtlich imponierte. In Gretas Ohren klang es nach einer Hundekrankheit. Dann verhandelten sie über eine Injektion. Feibert schien sich wirklich auszukennen, machte sogar ein paar Vorschläge. Ohne Zweifel hatte er das Kommando übernommen. Der Arzt reagierte unwillig.
«Warum haben Sie mich hergerufen, wenn Sie alles besser wissen? Wenn es nur darum geht, den Mann zu sedieren, hätten Sie den Dienst habenden Notarzt rufen können.»
«Sie sollen ihn eben nicht sedieren, Herr Professor. Wir müssen mit ihm reden.»
Da erst begriff Greta, dass sie es mit einem Professor der Psychiatrie zu tun hatte. Sie fühlte sich so hilflos wie nie zuvor und war fast ein wenig erleichtert, als es mir endlich gelang, den Uniformierten an der Haustür zu überzeugen, dass er mich in die Diele lassen musste. Nie im Leben werde ich vergessen, wie sie da oben mit Jan auf der Treppe saß, ihn mit beiden Armen umschlungen hielt. Man mag sich noch so viele schöne Worte zurechtlegen, meist durchkreuzen die eigenen Gefühle sämtliche nüchternen Pläne. Die Vermutung, die Tess geäußert hatte, der gesamte hässliche Nachmittag und Abend, alles brach mit Gewalt an die Oberfläche. Ich hatte große Mühe, mich zu beherrschen, nicht hinaufzustürmen und sie auseinander zu reißen. Feibert und der Professor standen noch am Fuß der Treppe. Von Feibert bekam ich ein paar knappe Auskünfte, nicht viel mehr, als dass Tess draußen auf der Terrasse lag. Und das war in dem Moment … Ich weiß es nicht! Es war grausam, ungeheuerlich, aber irgendwie logisch nach ihrem Anruf um halb drei und den vier Seiten, die ich in Gretas Wohnung gelesen hatte. Und es war nicht halb so schlimm wie der Anblick auf der Treppe. Gretas Miene! Ein ausdrucksstarkes Gesicht, ja, das hatte sie immer gehabt. Und was sie in den
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