Meineid
sein konnte, war damit der Ansatz für eine Erklärung geliefert. Davon abgesehen hatte Jan die wörtliche Rede wiederholt. Da konnten die schwerwiegenden Sätze ebenso an ihn wie an die Person gerichtet gewesen sein, mit der Tess während des Streits telefonierte. Karreis und Feibert hörten ihr aufmerksam zu, Jan vermutlich nicht. Er saß da mit gesenktem Kopf, die Hände zu einem festen Knäuel im Schoß verschränkt. Greta betrachtete ihn verstohlen, wie mir schien auch verunsichert, und kam zurück an den Ausgangspunkt.
«Wir haben das Haus kurz nach vier verlassen. Zurückgekommen sind wir etwa um halb elf. Auf die Minute genau weiß ich es nicht.»
Sie stutzte unvermittelt. Auf Karreis und Feibert musste es wirken, als versuche sie, sich an die exakte Zeit zu erinnern. Aber ihr fiel nur plötzlich das Licht hinter den oberen Fenstern ein. Warum es im Badezimmer gebrannt hatte, war klar, wenn Jan kurz vor oder nach neun hinaufgegangen war, um sich die Hände zu waschen. Das tat man nicht im Halbdunkel. Aber in seinem Arbeitszimmer? Es war Juni und lange hell draußen. Jan arbeitete häufig im Zwielicht am Computer. Als sie am Dienstag zu ihm hinaufgegangen war, um sich zu verabschieden, hatte sie das Licht einschalten müssen. Wenn er in seine Arbeit vertieft war, fiel ihm nicht auf, dass es im Zimmer dunkler wurde. Und wenn er wirklich schon kurz nach halb sechs hinuntergegangen war, da war es noch taghell gewesen, das Licht hätte nicht brennen dürfen. Sie fand es merkwürdig, aber brauchbar in dieser Situation.
«Wir wunderten uns, dass im Arbeitszimmer Licht brannte, fuhr sie fort.
«Die Diele und das Bad waren ebenfalls hell erleuchtet. Wir dachten zuerst, Tess hätte das Haus verlassen. Mit dem Licht war sie oft nachlässig. Jan machte sich Sorgen, dass sie in ihrer Wut etwas beschädigt haben könnte. Er ging hinauf, um nachzusehen, ob sein Computer in Ordnung war. Ich ging ins Wohnzimmer, sah, dass die Terrassentür offen stand, und …»
Sie brach ab, biss sich auf die Lippen, musste sich räuspern, ehe sie es aussprechen konnte:
«Dann sah ich Tess. Ich dachte, sie wäre eingeschlafen. Ich ging zu ihr, fasste sie an die Schulter.»
Karreis betrachtete Jans verschränkte Hände und fragte, ob sie mehr angefasst habe als Tess’ Schulter. Greta schüttelte den Kopf.
«Ich glaube nicht. Ich habe ziemlich schnell bemerkt, dass sie … dass sie tot war. Ich rief Jan. Und … Ich konnte nicht verhindern, dass er …»
Als sie seinen Namen aussprach, hob Jan den Kopf und schaute sie an. In seinem Blick war eine gewisse Aufmerksamkeit und noch etwas anderes, was ich nicht einordnen konnte. Wut? Hass? Verachtung? Trauer? Greta bemerkte es ebenfalls und sprach rasch weiter:
«Tess lag auf dem Bauch. Er riss sie hoch und drückte sie an sich. Ich konnte es wirklich nicht verhindern.»
Karreis zuckte mit den Schultern, betrachtete das Blut auf Jans Hemd mit einem undefinierbaren Blick, als wolle er sagen: Macht nichts. Ist nicht mehr zu ändern.
«Welchen Apparat haben Sie benutzt, als Sie uns riefen?, wollte er wissen.
«Den im Arbeitszimmer.»
Er zeigte zur Bar hinüber.
«Den dort haben Sie nicht angerührt?»
«Nein, ich wollte hier unten nichts anfassen.»
Irgendwie bewunderte ich sie. Ihrer Stimme fehlte die gewohnte Festigkeit, aber gerade das leichte Schwanken im Ton machte sie glaubwürdig. Nur glaubte ich ihr schon zu diesem Zeitpunkt kein einziges Wort. Karreis nickte kurz.
«Wie lange waren Sie am Nachmittag hier?»
«Eine Viertelstunde, zwanzig Minuten höchstens. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, als ich kam, und auch nicht, als wir gingen. Aber da ich direkt vom Büro aus hergekommen bin, das ist gut eine halbe Stunde Fahrt bei normalem Verkehrsaufkommen. Die Kanzlei habe ich kurz nach drei verlassen.»
Das hätte bedeutet, Greta hätte ihren Schriftsatz mitten im Diktat abgebrochen. Und das war nicht ihre Art. Was sie begann, brachte sie zu Ende – auf Biegen und Brechen. Ich nahm mir trotzdem vor, am Montag nach der Bandkassette zu forschen. Karreis nickte erneut und gestattete sich einen Seufzer.
«Und als Sie zusammen mit Herrn Tinner das Haus verließen, lebte Frau Tinner noch?»
«Natürlich!, erklärte Greta mit Nachdruck.
«Tess stand an der Bar und goss sich einen Drink ein.»
«Wenn Sie Drink sagen, meinen Sie Alkohol?»
«Ja. Tess trank in letzter Zeit sehr viel.»
Seit er den Kopf gehoben und begonnen hatte, Greta mit diesem teils
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