Meineid
Hals zu schauen. Wenn er dieses verfluchte Messer nach oben führte … Sie wollte nicht daran denken, nur reden, ihn ablenken.
«Dass du sie bekommen hast, wird Niklas dir nie verzeihen. Er hat von Anfang an versucht, dir etwas anzuhängen. Du hättest ihn erleben müssen, als er die alten Prozessakten sah. Für Niklas war dein Vater unschuldig. Seine geliebte Tess war an einen Muttermörder geraten. Er traut dir alles zu.»
Seine Augen waren seit mindestens dreißig Sekunden geschlossen. Die Hand mit dem Messer war vom Schenkel gerutscht, lag auf dem Boden in der Blutlache. Bis auf zwei Schritte kam sie an ihn heran, da fuhr die Hand wieder in die Höhe.
«Bleib, wo du bist, Greta, murmelte er.
«Es macht mir nichts aus, dich mitzunehmen. Es hat mir nie etwas ausgemacht, im Gegenteil. Ich mag es, wenn sie Schmerzen haben und Angst, wenn sie wimmern und um ihr Leben winseln. Darum hat Tess mich beschissen. Aber du hättest Barby hören müssen damals.»
Er kicherte leise vor sich hin. Als er weitersprach, verstand sie ihn kaum noch.
«Vorher hatte sie eine große Klappe. Als sie begriff, dass es Ernst war, wurde sie ganz klein. Im Roman habe ich sie Josephine genannt. Such nach Josy, Greta. Ihr richtiger Name war Barbara McKinney. Sie ist neunzehn Jahre alt geworden und ganz langsam gestorben. Du hast es so oft gelesen und nie begriffen, was ich dir zeigte.»
Er brachte die Lippen kaum noch auseinander und schaffte es nicht mehr, die Augen zu öffnen. Die Messerspitze tanzte vor Greta wie in einem Krampf. Es war nicht mehr schwer, ihm das Messer wegzunehmen. Nur ein Griff nach dem Handgelenk. Das Messer warf Greta nach hinten in den Raum. Dann riss sie ihn von der Tür weg. Der Kasten mit dem Verbandszeug war im Auto. Sie hatte keine Zeit, ihn zu holen. Ein paar Küchentücher mussten reichen. Jan war zäh und immer noch bei Bewusstsein. Er versuchte, sie abzuwehren. Aber es steckte keine Kraft mehr dahinter. Dann lag er endlich still und ließ zu, dass sie sich seinen Arm anschaute. Es war ein hässlicher Schnitt – sehr lang. Aber nicht tief genug! Er hatte die Arterie nicht getroffen, nur Venen. Die Blutung war stark, aber gleichmäßig, es spritzte nicht mit jedem Herzschlag aus der Wunde. Sie rollte zwei Tücher zusammen, drückte beide auf den Schnitt, band sie mit zwei anderen Tüchern fest. Dann rannte sie ins Wohnzimmer. Ihr zitterten die Hände so sehr, dass ihr der Telefonhörer zweimal aus der Hand fiel. Ich hatte nicht geschlafen, war von Gretas Wohnung zur Kanzlei gefahren. Ihr Diktiergerät lag noch auf ihrem Schreibtisch, zusammen mit zwei komplett besprochenen Bandkassetten. Ich fuhr zu meiner Wohnung und hörte mir den Schriftsatz an. Er war ausgefeilt wie alles, was Greta anpackte. Leider sagte das nicht viel über die Zeit, die sie gebraucht hatte. Greta konnte das Gerät für zwei Sekunden oder eine Viertelstunde ausgeschaltet haben, um den nächsten Absatz im Kopf zu formulieren. Doch auch bei zwei Sekunden war auszuschließen, dass sie die Kanzlei um halb vier verlassen hatte. Frühestens um halb fünf! Seit dieser Feststellung saß ich neben dem Telefon und grübelte, wen ich um einen Gefallen bitten könnte. Sämtliche Freunde und Bekannte ging ich im Geiste durch. Doch es war niemand darunter, der irgendeinen Einfluss bei der Bundeswehr gehabt hätte. Nur mein älterer Bruder Horst hatte seine Pflicht gegenüber dem Vaterland erfüllt und den Wehrdienst abgeleistet. Horst war seit einem Jahr verheiratet mit der Japanerin, eine Geologin wie er. Ich hatte meine Schwägerin noch nie zu Gesicht bekommen, konnte nicht einmal ihren Namen richtig aussprechen, weil ich ihn in voller Länge gar nicht kannte. Mutter nannte sie Ani. Horst und Ani bohrten am Südpol gemeinsam Löcher ins ewige Eis, lebten nicht, wie von Mutter befürchtet, in einem Iglu, sondern in einem Basislager. Und sie dort zu erreichen war theoretisch ausgeschlossen. Praktisch hätte es vielleicht eine Möglichkeit gegeben, über die Auftraggeber des Forschungsprojektes eine Funkfrequenz in Erfahrung zu bringen. Ein Riesenaufwand nur für die Frage:
«Erinnerst du dich an jemanden, der zusammen mit dir beim Bund war und dort Karriere gemacht haben könnte?»
Das erschien mir als zu viel Mühe. Dass ich es überhaupt in Erwägung zog, zeigt, in welcher Verfassung ich war. Ich konnte über Japan zum Südpol denken, nur nicht an Tess und noch weniger an das, was sich jetzt in Gretas Wohnung abspielen mochte. Es war so
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