Meineid
Schubfach nehmen und zustechen, als sie bewusstlos am Boden lag. Das hatte er nicht getan. Er konnte das eben nicht. Bei niemandem. Er hatte auch seine Mutter nicht getötet! Ein vierjähriges Kind! Lächerlich, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen.
«Lass ihn nicht tot sein, murmelte sie.
«Bitte, lass ihn nicht tot sein!»
Sie wusste nicht einmal, wen sie anflehte. Gott? Nein, den nicht. Ihn zu bitten, hielt sie für aussichtslos. Gott kannte keine Gnade und kein Erbarmen, sonst hätte er nicht zugelassen, dass ein Kind von Grund auf zerstört wurde.
«Kannst du dir nicht vorstellen, was dabei herauskommt?»
Natürlich konnte sie das, sie hatte schon mehrfach damit zu tun gehabt. Junge Männer vertreten, die erwachsen geworden, aber nicht aus der Wut herausgewachsen waren und nicht aus der Hilflosigkeit, der Schwäche und Sprachlosigkeit, dem gesamten Unvermögen eines friedlichen Miteinanders. Gutachter hatte sie beauftragt, um dem Staatsanwalt Paroli zu bieten.
«Mein Mandant ist schuldunfähig!»
Jan war nicht ihr Mandant. Jan war die große Ausnahme. Man konnte sie nicht alle in einen Sack stecken, wie ich es tat, fand sie. Der Gedanke an mich brachte sie auf das Naheliegende. Sie musste mich anrufen. Sie konnte nicht. Sie konnte auch nicht ins Bad gehen. Nicht noch eine Leiche! Nicht Jan, das hätte sie nicht verkraftet. Aber sie musste ins Bad. Sie musste ihm helfen. Die schmerzstillende Wirkung der Zäpfchen setzte erst nach zwanzig Minuten ein. Zum Sterben brauchte man erheblich länger.
.
« Greta schaffte die paar Schritte durch die Diele und drückte die Klinke nieder. Die Tür ging nicht auf. Abgeschlossen konnte sie nicht sein. Sie hatte den Schlüssel vor einiger Zeit abgezogen. Tess hatte sie darum gebeten. Im Februar und im März war Tess oft mit Mandy vorbeigekommen, am frühen Abend, nur für eine halbe Stunde. Sie saßen im Wohnraum, unterhielten sich. Mandy langweilte sich jedes Mal und nörgelte, bis Tess sie ins Bad schickte, wo Mandy sich dann am Waschbecken vergnügte.
«Zieh lieber den Schlüssel ab, riet Tess, «sonst schließt sie sich ein. Das hat sie bei mir auch schon getan. Und dann kann sie nicht wieder aufschließen, das gibt ein Mordsspektakel.»
Greta hatte den Schlüssel in den Schrank zu ihren Kosmetiksachen gelegt. Kaum anzunehmen, dass Jan danach gesucht hatte. Sie stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Ihr Kopf zersprang fast dabei, aber die Tür gab ein wenig nach. Sie sah ein Stück Haut, Jans Rücken.
«Lass ihn nicht tot sein, bitte, lass ihn nicht tot sein, bettelte sie erneut. Wenn ihr Kopf nicht so wehgetan hätte, wäre es wohl schneller gegangen. Und wenn sie nicht so benommen gewesen wäre, hätte sie auch eher begriffen, dass so viel Widerstand nicht von einem Bewusstlosen oder gar von einem Toten kommen konnte, dass Jan sich seinerseits gegen die Tür stemmte. Aber er lag auf dem glatten Fliesenboden, hatte keinen Halt für Hände und Füße, seine Kraft ließ nach. Irgendwann war die Tür so weit offen, dass Greta sich durchzwängen und über ihn hinwegsteigen konnte. Das Blut hatte sie schon vorher gesehen. Jan blutete aus dem linken Handgelenk. Und ihrer Überzeugung nach war es keiner von den halbherzigen oder vorgetäuschten Selbstmorden, bei denen der Schnitt quer über das Gelenk führte. Es war ihm wirklich ernst gewesen. Die Wunde war sechs, sieben Zentimeter lang und verlief von unten nach oben. Wie tief sie war, ließ er sie nicht feststellen. Er schlug mit dem rechten Arm nach ihr, kaum dass sie über ihn hinweg gestiegen war. Er zog die Beine an, richtete sich in eine sitzende Position auf, mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt und sie ins Schloss drückend. Den blutenden Arm schob er hinter seinen Rücken. Er sprach nicht, schaute sie auch nicht an, suchte stattdessen mit den Augen den Boden nach etwas ab. Greta bemerkte es nicht sofort, weil sie erneut wie hypnotisiert auf seine vernarbten und nun auch noch mit Blut besudelten Beine starren musste. Als sie begriff, was er vorhatte, hielt er das Messer bereits in der Faust und schlug damit vor sich hin und her. Es war ein Messer mit gezahnter Klinge. Sie benutzte es meist zum Gemüseschneiden und wusste, wie scharf es war. Er musste es sich während ihrer Bewusstlosigkeit aus der Küche geholt haben. Sie kam nicht an ihn heran. Er hätte sie verletzt. Dabei hatte sie keine Angst vor einem Schnitt. Nur davor, dass er sie noch einmal außer Gefecht setzte. Sie versuchte es mit
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