Meineid
still um mich herum. Meine Eltern saßen vermutlich längst am Frühstückstisch, in meiner Wohnung war davon nichts zu hören. Draußen regte sich nichts. Wenn ich aufmerksam lauschte, hörte ich ein wenig Vogelgezwitscher. Es war unerträglich friedlich. Das Telefon machte der Unerträglichkeit ein Ende. Schon beim ersten Klingeln hatte ich den Hörer am Ohr. Greta konnte nur flüstern, umriss in kurzen Sätzen die Lage und erklärte ihr Begehren. Wir brauchten einen zuverlässigen Arzt, der nur tat, was getan werden musste. Es kam nur einer in Frage, mein jüngerer Bruder Armin. Er absolvierte an der Universitätsklinik inzwischen seine Ausbildung zum Facharzt. Chirurg wollte er werden. Ich könnte nicht sagen, dass mich die Nachricht, Jan habe sich umbringen wollen, in Sorge versetzte. Irgendwie beruhigte sie mich sogar.
«Ich weiß nicht, ob Armin Dienst hat», sagte ich.
«Wenn ja, kann er nicht einfach aus der Klinik verschwinden.»
«Es ist ein Notfall, verdammt! Du wirst ihm doch etwas erzählen können. Jetzt mach schon! Jan hat eine Menge Blut verloren.»
Eine Menge war mir nicht genug. Alles, damit wäre ich zufrieden gewesen. Ihn neben Tess zu beerdigen hätte mich von dem Gefühl der Hilflosigkeit befreit. Trotzdem machte ich mich auf den Weg und brauchte nur knapp eine Viertelstunde bis zu Gretas Wohnung, obwohl der typische Samstagsverkehr auf der Rheinuferstraße herrschte. Als ich eintraf, hatte sie Jan bereits den blutigen Slip aus- und einen frischen angezogen, ihn ins Schlafzimmer geschleift, aufs Bett gehievt und in zwei Wolldecken gepackt. Ob er noch bei Bewusstsein war, konnte ich nicht feststellen. Es interessierte mich auch nicht. Greta sah entsetzlich aus mit ihrem zerschlagenen Gesicht. Und dafür hätte ich gerne zu Ende gebracht, was er begonnen hatte. Ich nötigte sie, sich zu waschen und umzuziehen, machte mich daran, die Blutlache im Bad aufzuwischen. Der Einfachheit halber nahm ich dazu das nasse Kostüm und die Bluse. Ich wollte verhindern, dass mein Bruder abschätzte, wie viel Blut Jan verloren hatte, und darauf bestand, ihn mitzunehmen, wie der Psychiatrieprofessor in der Nacht. Greta schaute ungläubig und nervös zu, wie ich Wasser in die Wanne ließ.
«Was machst du?»
«Deine Sachen auswaschen», sagte ich.
«Du kannst sie nicht so blutverschmiert in die Reinigung bringen.»
«Vergiss es. Das Kostüm hatte ich mir gestern schon ruiniert. – Wann kommt Armin?»
«Ich rufe ihn an, sobald wir hier klar Schiff gemacht haben.»
Sie war völlig außer sich.
«Du hast ihn noch gar nicht angerufen? Aber ich habe dir doch gesagt …»
«Beruhige dich», sagte ich.
«Jan wird nicht sterben.»
Ich brachte sie ins Wohnzimmer, drückte sie auf die Couch und rief endlich meinen Bruder an. Armin kam nur zehn Minuten später. Er hatte keinen Dienst und kümmerte sich zuerst um Greta, warf einen prüfenden Blick in ihr Gesicht, tastete mit den Fingerspitzen die Schwellungen ab. Bevor ich ihm etwas erklären konnte, stellte er fest:
«Gebrochen ist nichts.»
«Dein Patient liegt im Schlafzimmer», sagte ich. Zuerst weigerte sich Armin, Jans Wunde an Ort und Stelle zu vernähen.
«Er muss in eine Klinik, braucht wahrscheinlich eine Transfusion. Das kann ich so nicht feststellen.»
«Miss seinen Blutdruck, das wirst du ja wohl können. Es kann nicht so schlimm sein, wie es aussieht! Greta ist doch gleich dazugekommen und hat ihn verbunden. Und vorher hat er Unmengen von Styptobion geschluckt.»
Darüber lachte Armin nur.
«Das ist Vitamin K. Das kannst du bei kleinen Wunden nehmen. Wenn du fest daran glaubst, hilft es vielleicht. Bei ernsthaften Verletzungen wirfst du es besser in den Müll. Und noch etwas, ich flicke ihn zusammen, und bei nächster Gelegenheit tut er es wieder und dann gründlicher. Nein, die Verantwortung kann ich nicht übernehmen.»
«Die übernehme ich», sagte ich.
«Er wird es garantiert nicht noch einmal tun. Wenn es ihm wirklich ernst gewesen wäre, hätte er nicht vorher diese Tabletten geschluckt. Dass sie bei größeren Verletzungen nichts bewirken, steht ja nicht auf der Packung. Außerdem hätte er tiefer geschnitten und dafür gesorgt, dass Greta nicht nach fünf Minuten wieder auf den Beinen ist. Also mach keinen Aufstand. Näh die Wunde. Einen Klinikaufenthalt kann er sich nicht leisten. Er ist nicht versichert.»
«Das glaube ich nicht», sagte Armin.
«Es ist aber so, erklärte ich.
«Jan ist Freiberufler, war in einer von
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