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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabelle Neulinger
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hört nicht auf, das Jahr 2002 wird noch mehr Todesopfer fordern als das Vorjahr. Und dennoch geht das Leben weiter, die Toten werden begraben, die Gewalt gehört zum Alltag.

    In Ramat Gan wohnen wir zu weit vom Meer entfernt, als dass ich mich bei Einbruch der Dunkelheit einmal im Monat im Meerwasser reinigen könnte. Es ist zu weit und zu gefährlich. Um die Reinheitsgesetze weiter einhalten zu können, ringe ich mich dazu durch, eine Einrichtung in der Nähe aufzusuchen, in der es eine Mikwe gibt. Bei einer Mikwe handelt es sich um ein direkt in den Boden eingelassenes Becken, das nach genauen Regeln und spezifischen Maßen konstruiert wird. Es ist mit gefiltertem Regenwasser oder Wasser aus einer natürlichen Quelle gefüllt. Die Mikwe ähnelt einem kleinen Schwimmbad, zu dem man über einige Stufen nach unten gelangt, symbolisch ein Verweis auf Wasser und Leben, aber auch auf den Tod und die Wiedergeburt.
    Das Untertauchen erfolgt, sobald es Nacht geworden ist. Davor badet man und wäscht sich sorgfältig, um jeden Fremdkörper zu entfernen, der den vollständigen Kontakt des Wassers mit dem Körper verhindern könnte. Am Eingang werde ich von der Balanit, der Aufsichtsperson, empfangen. Sie achtet darauf, dass das Untertauchen korrekt ausgeführt wird, und kommt einem wenn nötig zu Hilfe. Das Untertauchen ist nur dann gültig, wenn das Wasser die Frau ganz umschließt, auch das Haar. Die Balanit fordert mich auf, mich auszuziehen, und kontrolliert, ob jeder Körperteil richtig gereinigt wurde. Ich muss den Mund öffnen und die Zähne zeigen, den Bauchnabel zur Schau stellen und Finger und Zehen spreizen. Sie hebt die Haare hoch und schaut mir unter die Achseln. Erst dann darf ich ins lauwarme Wasser steigen. Im Judentum sagt man, es gebe drei Momente, in denen sich die Himmelstore weit öffnen: wenn die Sabbatkerzen angezündet werden, an Jom Kippur und wenn eine Frau ins Wasser der Mikwe taucht.
    Nachdem ich den erforderlichen Segensspruch aufgesagt habe, gehe ich langsam die Stufen hinab und tauche mit offenem Haar ganz unter in die Stille des heiligen Wassers. Ich wiederhole diesen Vorgang dreimal und tauche dann wieder aus dem Wasser. Nun bin ich rein. Die Mikwe ist mit ihrem ursprünglichen, reinen Wasser auch die Quelle der Schöpfung und ein jahrtausendealtes Geheimnis, das ich mit meinen jüdischen Schwestern auf der ganzen Welt teile. Zumindest sollte sie das sein.
    Denn statt das Heitere, das Heilige und das Göttliche dieses Moments zu empfinden, fühle ich mich gedemütigt und zu einer zum Verkauf ausgestellten Stute degradiert.
    Plötzlich kommt mir die Fernsehserie in den Sinn, die ich mit Shai anschaute, die lustige Szene, als sich die Ehefrau auf dem Weg zur Mikwe betrinkt. Jetzt ist mir nicht mehr zum Lachen zumute. Zu Hause hat Shai alle Mühe, mich wieder aufzumuntern. Ich kann mich nicht entspannen und dem Moment unserer Begegnung hingeben.
    Dabei hat man mir beigebracht, dass die Mikwe vor allem dazu dient, eine höhere spirituelle Dimension, eine weitere Bewusstseinsebene zu erlangen. Ich kann mir noch so oft vor Augen führen, dass die Enthaltsamkeit zwischen einem Mann und seiner Frau rein gar nichts mit Zurückweisung oder Ekel zu tun hat, dass es sich um ein spirituelles Konzept handelt – es fällt mir dennoch schwer, mich damit abzufinden. Doch von Shai kommt keine Hilfe. Während zweier Wochen im Monat haben wir keinen Körperkontakt, wir streifen uns nicht einmal. Wir vermeiden es sogar, uns bei Tisch das Wasser oder das Salz zu reichen.

    Ich kann es kaum glauben, als ich drei Monate nach meiner Gallenblasenoperation schwanger werde. Shai ist außer sich vor Freude. Der Sommer fängt an, und wir fahren für einige Tage nach Eilat. Die Sonne und das Meer tun uns gut. Wir schwimmen im Dolphin Reef, einem offenen Meeresgehege in der Bucht von Eilat, mit den Delfinen, die dort frei herumtollen. Scheinbar nehmen Delfine mit ihrer Ultraschallortung wahr, wenn eine Frau schwanger ist, ein neues Wesen heranwächst. Ich bin begeistert. Ich fühle mich schön, ich strahle und bin vor allem froh darüber, dass ich während der Schwangerschaft und der Stillzeit, solange die Periode ausbleibt, nicht die Mikwe aufsuchen muss. So kann ich ganz ohne schlechtes Gewissen Shais Hand halten und ihm meine Zuneigung zeigen.
    Nach unserer Rückkehr von Eilat habe ich die erste Kontrolluntersuchung.

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