Meinen Sohn bekommt ihr nie
verstehen.»
Ich verstehe. Vor allem verstehe ich, dass die Schweiz nicht viel für mich tun wird.
An einem Morgen im Februar 2005 ruft mich Igal an. «Willst du die Scheidung?»
«Selbstverständlich! Was für eine Frage! Wie hast du das geschafft?», frage ich zurück.
«Das wirst du nächste Woche vor Gericht sehen», antwortet er.
Doch ich habe nie erfahren, durch welches Wunder Shai der Scheidung zugestimmt hat.
Am Tag der Verhandlung begebe ich mich mit Igal und meiner Cousine Ayala, die extra aus Jerusalem gekommen ist, aufs Rabbinatsgericht. Fünf oder sechs Richter sitzen in einem Halbkreis im Gerichtssaal. Dann folgt die groÃe Ãberraschung: Shai gibt mir wider Erwarten den Get.
Die Zeremonie ist genauso symbolisch wie die einer Vermählung, doch die Stimmung ist eine ganz andere. Mein Mann verstöÃt mich, indem er sich vor mich stellt und mir sagt, dass ich ihm nach dem Gesetz Moses und Israels nicht mehr gehöre, dass ich nicht mehr die Seine und frei bin, einem anderen Mann zu gehören: «Dies diene dir als Scheidebrief von mir, als Entlassungs- und Befreiungsurkunde, so dass du nun gehen kannst, dich mit jedem Mann, den du willst, zu verheiraten.»
Wie es das Ritual vorschreibt, muss ich einige Schritte zurückweichen, um die VerstoÃung anzunehmen. Meine Erleichterung über die unerwartete Wende in dieser Angelegenheit ist so groÃ, dass ich zurückgehe, ohne mir zu viele Fragen zu stellen. Eins, zwei, drei⦠ich zähle die Schritte. Danach warte ich den Rest des Tages, bis ich die Scheidungsurkunde erhalte.
Ich habe das sonderbare Gefühl, zum zweiten Mal Witwe geworden zu sein. Shai lebt zwar noch, aber ich kann einfach nichts mehr an ihm finden, was ich kannte, nichts Vertrautes, keinen Anhaltspunkt.
Als ich das Gericht verlasse, bin ich endlich frei. Ich weià jedoch, dass ich noch nicht am Ziel bin. Das Schwierigste steht mir noch bevor. Ich kann unmöglich geduldig das Jahr 2021 abwarten, wenn Noam volljährig sein wird und das Land verlassen darf. Shai wird immer einen Groll gegen mich hegen, so viel steht fest. Er wird mich nie in Frieden lassen, und ich werde meinen Sohn in diesem Land nie nach meinen Vorstellungen und ohne Zwänge aufziehen können, fernab vom Wahn seines Vaters. Wenn er das Kind jetzt schon auf seine Bittstellergänge im Namen seiner Gemeinschaft mitnimmt, was wird erst sein, wenn Noam lesen und schreiben kann? Wo bringt er ihn dann hin? Wird er ihn für die Lubawitscher einspannen? Werde ich ihn eines Tages wie seinen Vater ganz in Schwarz gekleidet sehen? Wird mein Sohn die Schule verlassen, um sich nur noch dem Gebet und dem Thorastudium zu widmen? Shai hat schon durchblicken lassen, dass er bei Noams Erziehung keine Kompromisse dulde und dass mein Leben zur Hölle werde, wenn ich Noam nicht streng nach den Traditionen erziehe. Und wer sagt mir, dass Shai nicht mit dem Rückhalt seiner Leute und seines Rabbis versuchen wird, mir meinen Sohn wegzunehmen?
Ich verscheuche diese dunklen Gedanken. Mein Entschluss, zu meiner Familie in die Schweiz zurückzukehren, steht fest. Ich will nicht länger unter dem Damoklesschwert leben, morgens aufwachen im Wissen, dass mir hier die Hände gebunden sind. Noam hat das Recht, in einer sorgenfreien Umgebung aufzuwachsen.
Doch im März wird mein Antrag, mit Noam für einen Besuch bei meinen Eltern das Land zu verlassen, ein zweites Mal abgelehnt. Und dabei habe ich zum Zeichen meiner guten Absichten eine Kaution von 20000 Dollar angeboten. Die Richterin bleibt hart und weist erneut auf die Fluchtgefahr hin. Sie legt eine Kaution von einer halben Million Dollar fest, einer Summe, die ich unmöglich aufbringen kann. Shai erhebt sich im Gerichtssaal und spricht sich ausdrücklich â «unter keinen Umständen, mit oder ohne Kaution» â gegen eine Ausreise aus.
Mir bleibt keine Wahl, ich muss fliehen. Und dafür brauche ich einen Plan.
Mit meiner Schwester, die mich aus der Schweiz besuchen kommt, entwerfe ich mehrere Szenarien. Unsere erste Idee ist, ein Schiff von Zypern oder Griechenland aus zu chartern und an Bord eines kleinen Bootes bis zur israelischen AuÃengrenze vorzudringen. Dort würden wir auf das Schiff umsteigen und uns ans europäische Festland bringen lassen. Das klingt verlockend, doch die territorialen Gewässer werden mindestens genauso streng bewacht wie ein Grenzposten an Land. Bevor
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