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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabelle Neulinger
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Privatwagen, nicht aber mit einem Mietwagen passieren kann. Für einen Privatwagen sind zudem spezielle Zulassungspapiere sowie eine Transiterlaubnis und ein zusätzlicher Versicherungsschutz für Ägypten erforderlich. Diese Dokumente werden vom israelischen Verkehrsministerium ausgestellt. Ich lasse dabei größte Vorsicht walten, Shai soll keinen Verdacht schöpfen.
    Und dann, ungefähr einen Monat vor der Flucht, als alles in die Wege geleitet ist, die nötigen Papiere da sind und mein Auto für den großen Tag von oben bis unten durchgecheckt worden ist, kommt alles ganz anders. Mein zweites Handy klingelt, und Moshe erklärt mir, dass es ihm leid tue, seine Frau sei schwanger, er könne das Risiko nicht eingehen, er könne meinen Sohn nicht über die Grenze bringen.
    Für mich bricht eine Welt zusammen. Alle meine Hoffnungen lösen sich in Nichts auf. Ich sage mir, wie idiotisch und naiv es doch von mir war, 30000 Dollar einer Person anzuvertrauen, von der ich nichts weiß und die mich von heute auf morgen einfach fallen lassen kann. Mir bleibt rein gar nichts mehr, um jemand anderen anzuheuern.
    Doch ich gebe mich noch nicht geschlagen. Als sich der erste Schreck gelegt hat, entscheide ich mich, Moshe noch einmal anzurufen.
    Â«Es ist dir zu riskant, das Kind über die Grenze zu bringen, einverstanden. Aber was bietest du mir für den Preis, den ich dir bereits bezahlt habe?», frage ich fordernd.
    Moshe bleibt ruhig. Nach einigem Nachdenken schlägt er mir Folgendes vor: «Ich hole dich in Tel Aviv ab und fahre dich mit dem Auto bis Eilat und weiter bis zum Grenzposten von Taba. Von dort musst du dir selbst weiterhelfen und deinen Sohn alleine über die Grenze bringen. Auf der andern Seite hole ich dich wieder ab und fahre dich bis Scharm el-Scheich. Danach schaffe ich das Auto nach Israel zurück.»
    Leicht gesagt. Angesichts dieses neuen Szenarios überlege ich mir einen Moment lang, die Strategie zu wechseln. Doch dann begreife ich, dass ich einem anderen Schleuser oder der Mafia nicht mehr vertrauen könnte. Ich habe keine andere Wahl, ich muss seinen Vorschlag annehmen. Also werde ich meinen Sohn selbst außer Landes bringen.

    Meine Schwester hat mir aus der Schweiz schon Tickets für den Flug Scharm el-Scheich–Genf geschickt, ausgestellt auf meinen und auf Noams Namen. Zusammen mit unseren Pässen habe ich sie im Büro weggeschlossen. Und ich habe auch daran gedacht, Shais Pass in den Reißwolf zu geben, damit er uns nicht folgen kann oder zumindest gezwungen ist, sich zunächst neue Papiere zu besorgen. Bei der Langsamkeit der israelischen Verwaltung würde dieser Umweg seine Pläne erheblich verzögern. Ich hinterlege auch Vollmachten für meinen Anwalt, damit dieser nach meiner Abreise Versicherungen, Bankkonten und das Mietverhältnis auflösen sowie das Auto verkaufen kann, das Moshe nach Tel Aviv zurückbringen wird. Ich habe an alles gedacht.
    Dieses Mal scheint das Glück auf meiner Seite. Den ganzen letzten Winter hindurch war Noam sehr krank und musste mehrmals ins Krankenhaus, doch seit einigen Monaten lässt mich sein Gesundheitszustand aufatmen, und ich hoffe, dass dies so bleibt.
    Der Tag der Abreise rückt immer näher. Alles ist für die Flucht sorgfältig vorbereitet. Da Shai jede Woche zweimal für je zwei Stunden sein elterliches Besuchsrecht wahrnimmt, immer mittwochs und sonntags, müssen wir einen günstigen Zeitpunkt zwischen diesen zwei Wochentagen finden. Unsere Wahl fällt auf einen Donnerstagabend. Am Freitag werde ich in Scharm el-Scheich sein und von dort am Sonntag mit dem ersten Flieger nach Genf weiterreisen. Wenn alles nach Plan verläuft, werden wir am Sonntagnachmittag, zu Shais offizieller Besuchszeit, schon in der Schweiz sein.
    In den Tagen vor unserer Abreise spaziere ich mit Noam durch Tel Aviv. Ich suche alle Orte auf, die mir etwas bedeuten, und ich betrachte sie lange, wie um sie mir einzuprägen. Gleichzeitig verspüre ich eine Art Nostalgie und eine Furcht – Nostalgie, weil ich weiß, dass mein Abschied für immer sein wird, dass ich nicht nach Israel zurückkehren kann, sollte mir die Flucht gelingen; und Furcht, weil ich im Falle eines Scheiterns ins Gefängnis kommen werde, und Gott allein weiß, was dann aus Noam würde.

    Als der Tag gekommen ist, gehe ich morgens zur Arbeit, ohne mir etwas anmerken zu lassen, auch nicht die

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