Meinen Sohn bekommt ihr nie
Unruhe, die mich fast zerfrisst. Noam ist im Hort. Mittags klingelt das Telefon, ich befürchte schon den nächsten Rückschlag. Doch diesmal ist es mein normales Handy, nicht das des Schleusers. Nachdem Noam seit Monaten nicht mehr krank gewesen ist, teilt mir die Krippe mit, dass ich sofort kommen müsse, mein Sohn habe hohes Fieber.
Reflexartig rufe ich meine Schwester in Genf an. «Was soll ich tun?», frage ich.
Ihre Antwort ist unmissverständlich: «Auch in Ãgypten gibt es Ãrzte. Alles ist bereit, zieh das jetzt durch! Na los!»
Ihre Bestimmtheit lässt mich ruhiger werden, auch wenn mir mein Mutterherz zuflüstert, dass ich einen kranken Wicht von knapp zwei Jahren unmöglich auf eine so gefährliche Reise mitnehmen kann, dass ich es ihm in seinem Zustand nicht zumuten darf, die Sinaiwüste im Auto zu durchquerenâ¦
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als Noam von der Krippe abzuholen und auf direktem Weg ins Krankenhaus zu bringen. Während die Ãrzte die notwendigen Untersuchungen durchführen und ich im Wartezimmer sitze, steigt meine Nervosität. Was, wenn Noam im Krankenhaus bleiben muss? Unser Fluchtprojekt würde sich auf unbestimmte Zeit verzögern.
Doch dann gibt die diensthabende Kinderärztin Entwarnung: «Ihr Sohn hat eine starke Mittelohrentzündung.»
Ich schaue sie erleichtert an. «Eine Mittelohrentzündung? Wenn es weiter nichts ist!», rufe ich aus. Sicherlich wird sie sich denken, was für eine Rabenmutter ich doch bin.
Eine Mittelohrentzündung ist jedenfalls nicht schlimm genug, um unsere Pläne zu gefährden. Der Startschuss ist gefallen, nun heiÃt es: Augen zu und durch! Noam soll nur nicht fliegen. Doch bis Sonntag werden die Antibiotika sicherlich ihre Wirkung zeigen.
Als ich wieder nach Hause komme, ist mir leichter zumute. Ich werfe einen letzten Blick auf meine vertraute Umgebung, die ich nun verlassen werde. Ich gehe mit leeren Händen. Nur einen kleinen Rucksack habe ich bei mir, in dem sich vor allem die Rechtsdokumente und unsere Papiere befinden sowie eine Babytasche für Noam mit frischer Kleidung und Windeln.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist Punkt sechs, Moshe muss jeden Moment da sein. Noam ist auf dem Sofa eingenickt, das Fieber und die Medikamente haben ihn schläfrig gemacht. Mit jeder Minute, die vergeht, wächst meine Unruhe. 19.30 Uhr. Immer noch keiner da, und meine Anrufe bleiben unbeantwortet. Ich befürchte schon, dass es sich der gute Mann im letzten Moment doch noch anders überlegt hat, nachdem er schon einmal das Risiko scheute. Wenn er nicht kommt, werde ich nicht die Kraft haben, die stundenlange Fahrt nach Taba selbst zu unternehmen.
Die Klingel reiÃt mich aus meinen Gedanken und lässt mein Herz laut schlagen. Er ist da! Und er beruhigt mich, er habe keinesfalls daran gedacht, unseren Plan aufzugeben, doch seine Frau, der er von einem Erholungswochenende auf dem Sinai erzählt habe â unter Israelis eine beliebte Mode â, habe sich partout nicht davon abbringen lassen, ihn zum Flughafen zu begleiten. So habe er warten müssen, bis sie wieder weg war, um sich dann mit dem Taxi ins Zentrum von Tel Aviv fahren zu lassen.
Wir beeilen uns, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, ein weiter Weg liegt vor uns. Ohne jedes Bedauern schlieÃe ich die Tür hinter mir, als ob ich übers Wochenende wegfahren würde. Ich gehe, ohne mich umzudrehen.
Die Strecke nach Taba ist eintönig und kommt mir endlos vor. Gleichzeitig graut mir vor dem Moment, in dem die Grenzstation vor mir auftauchen wird. Noam schläft und bekommt von all dem nichts mit. Moshe und ich haben ihn sorgfältig in einer groÃen Fischertasche im Heck des Wagens versteckt und um das improvisierte Bettchen Flossen und anderes Tauchzubehör drapiert. In dieser Nacht, in der sich mein Schicksal entscheiden wird, soll ich meine Freunde am Roten Meer treffen. Wir wollen das Wochenende zusammen verbringen und die faszinierende Unterwasserwelt erkunden.
Lynn hat daran gedacht, mir aus der Schweiz einen Sirup zu schicken, der Kindern beim Einschlafen hilft. Ich habe Noam einen Löffel davon gegeben und ihm das Zahnfleisch mit süÃem Wein eingerieben, demselben Wein, der zum Heiligen des Sabbats verwendet wirdâ¦
Nachdem wir viele Kilometer schweigend zurückgelegt haben, erreichen wir Arad, eine kleine Stadt in der Negevwüste, rund dreihundert Kilometer von Eilat
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