Meines Bruders Moerderin
jetzt den Bestatter rufen.«
Dagmar hörte, dass an ihrer Wohnungstür nebenan geläutet wurde. Sie stand auf. Wiederholtes Läuten. Sie berührte den alten Arzt leicht an der Schulter, spitz und brüchig unter seiner Strickjacke. »Danke.«
»Nein!« Emilio stellte sich ihr in den Weg, »Sie dürfen nicht gehen. Sie dürfen mich nicht allein lassen.«
Es läutete Sturm nebenan.
»Sie schaffen das auch allein, Emilio.« Dagmar zwang sich zu einem Lächeln, aber sie dachte an die Druckstellen, die auf den Fingern zurückgeblieben waren, als er seiner Tante die Ringe abgezogen hatte. Und sie dachte daran, dass sie sich jetzt eine neue Wohnung suchen musste.
Vor ihrer Tür standen Pia und Janet. Sie wirkten völlig aufgelöst, selbst Janet hatte ihre britische coolness verloren. »Da bist du ja!«
»Wieso gehst du nicht ans Telefon?«
»Ich hatte keine Zeit. Meine Nachbarin ist gestorben. Kommt rein«, Dagmar ging voraus. »Was ist denn los?«
Pia sah kurz zu Janet. »Wir haben uns Sorgen gemacht.«
Dagmar suchte ihre Sachen zusammen, schob die kleinen Papiertütchen in eine Plastiktüte. »Wegen mir?« Die beiden anderen blieben dicht hinter ihr.
»Na ja«, Janet steckte sich eine Zigarette an und suchte nach einem Aschenbecher. »Wir dachten, du hast vielleicht Schuldgefühle, wegen Yolanda.«
»Natürlich habe ich die. Ich bin schuld an ihrem Tod. Ich habe sie in diese ganze Scheißsituation reingeredet.« Dagmar suchte ihre Schlüssel und griff nach ihrem Handy. »Und ich habe nicht wirklich an Barbara geglaubt.« Gas aus, Licht aus, Unterlagen, Notizen? »Aber ich kann es nicht rückgängig machen. Ich kann nur versuchen, jetzt Barbara zu helfen.«
»Wir. Das betrifft uns alle«, Pia hatte wie immer Jeans, T-Shirt und Weste an, und eine Beule unter der Weste.
»Ich dachte, du hast deine Waffe abgegeben!« Janet benutzte verstohlen einen Blumentopf als Aschenbecher.
Pia zog ihre Weste zurecht. »Ist die Pistole meines Vaters. Ich dachte, wir würden sie vielleicht brauchen. Keine Angst, ich habe einen Waffenschein!«
»Natürlich«, Janet entdeckte die Fotos auf dem Tisch. Dagmar schob sie bis auf eins in die Schublade. »Das sind meine Kinder. Sarah und Achim.« Sie steckte das Foto in ihre Tasche. »Ich würde euch gern etwas anbieten oder so, aber ich habe Angst, mein Nachbar sucht mich gleich wieder heim.« Sie hatte alles beisammen und drängte die anderen fast unhöflich zur Wohnungstür.
An der Tür der Señora Negre hing immer noch der gelbe Zettel. Dagmar kämpfte mit den Tränen und rannte die Treppen so schnell hinunter, dass sie beim letzten Absatz stolperte und gestürzt wäre, hätte Pia sie nicht im letzten Moment am Arm gepackt und zurückgerissen.
41
Paul Reimann hatte eine bekannte und zwei geheime Handynummern, und Janet kannte sie alle. Unter der dritten Nummer erwischte sie ihn. Sie sprach ihn auf Englisch an. »Hallo, Mr. Reimann. Janet Howard hier. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.« Am anderen Ende konsterniertes Schweigen. Janet setzte nach. »Golf? Lunch? Siesta?«
»Woher haben Sie die Nummer?«
»Aber Paul, Sie wissen doch, dass diese kleinen elektronischen Geheimnisse für mich kein Problem darstellen. Ich würde Sie gerne sehen.«
»Ich Sie aber nicht. Sorry, falls das jetzt uncharmant geklungen hat.« Lachen.
»Kein Problem. Ich finde Sie auch zum Kotzen. Aber vielleicht möchten Sie mich doch treffen? Wenn ich Ihnen verspreche, ein paar Einzelheiten aus dem Doppelleben Ihres Bruders zu verraten.«
»Sie wissen absolut nichts!« Höhnisches Lachen, allerdings etwas dünn.
»Mehr als Sie. Seit der Erfindung von Computern und Internet ist die Welt klein und durchsichtig geworden. Auch die Finanzwelt. Aber natürlich muss man mit den neuen Medien umgehen können. Sie können das nicht, Paul. Sie sind zu alt.« Janet konnte sich einen kleinen Kicherer nicht verkneifen.
»Sie haben für diese Dinge Ihre Domestiken. Nur dumm, dass Sie in diesem Fall keinem trauen können. Es geht um sehr viel Geld. Zu viel Geld. Und Ihr hoch geschätzter Bruder hat sich leider außer zu all den Finanzschiebereien auch noch zu einem Mord und zu einem Mordversuch hinreißen lassen. Das könnte die rechtliche Verfügbarkeit des immerhin gewaltigen Restvermögens doch fragwürdig erscheinen lassen. Meinen Sie nicht, Paul?«
Schweigen. Langes Schweigen. Dann kaum verständlich: »Wo? Wann?«
»Jetzt gleich? Ich habe Zeit.«
»Gut«, kurzes Murmeln im Hintergrund, dann Paul Reimanns
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