Meines Bruders Moerderin
konnte natürlich sagen, dass ihr Handy kaputt war, aber Fusté würde so was nur als dumme Ausrede abtun. Selbst, wenn es wahr wäre.
Sie sah auf die Uhr. Noch nicht halb neun. Sie würde jetzt nicht springen wie ein Hund auf den Pfiff seines Herrn. Nein! Sie machte einen kleinen Bogen und wählte den Weg durch den Boulevard Rosa. Normalerweise vermied sie diese klimatisierte Luxuspassage aus funkelndem Glas, aber heute ging es ihr so gut wie schon lange nicht mehr. Sie hatte einen guten Job, sie hatte Freundinnen gefunden, und bald würde sie mehr über ihre Kinder erfahren. Sie blieb vor einem Schaufenster mit italienischen Designerschuhen stehen. Dagmar liebte Schuhe. Besser gesagt, sie hatte sie geliebt. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt etwas anderes als weiße oder schwarze alpargatas in der Aragó gekauft hatte. Wäre sie reich, und hätte der Laden schon geöffnet, müsste sie sich zwischen einem Hauch von weißen Sandaletten und einem leichten Laufschuh im Budapester Stil im neuesten superschmalen Look entscheiden. In königsblau! Beide waren natürlich nichts, wenn man Schuhe brauchte , aber wunderbar für die Frau, die schon hundert Paar im Schrank hatte.
Dagmar lächelte in sich hinein und ging weiter. Sie lebte wieder. Sie machte noch einen kleinen Umweg, um den so lange nicht wahrgenommenen Luxus länger auszukosten. Zwei bewaffnete Wachmänner patrouillierten an ihr vorbei. Noch gestern wäre sie automatisch ausgewichen, jetzt hatte sie das Gefühl, wieder auf der richtigen Seite zu stehen.
Sie kam auf den Passeig de Gràcia hinaus, überquerte ihn in zwei Ampelphasen und wandte sich nicht nach links zur Kanzlei, sondern steuerte auf die kleine Teebar zu. Sie war keine Sklavin, verdammt. Sie war eine zugelassene Anwältin, Mitglied der Anwaltskammer. Und sie konnte ihre Arbeitszeit selbst bestimmen. Sie tauchte ein in die Eleganz hoher, holzgetäfelter Bögen und bestellte sich einen eisgekühlten Pfefferminztee.
Nachdenken. Eine Strategie zurechtlegen. Sie kam nicht weiter, so ganz konnte sie mit ihrem neu gewonnenen Selbstbewusstsein noch nicht umgehen. Fühlte sich aber etwas ruhiger. Sie zahlte und sah erst im Hinausgehen die Zeitung auf dem Nebentisch. > Flucht der Feuermörderin vereitelt! <, lautete die fette Schlagzeile. Und gleich darunter zwei erstaunlich scharfe Fotos. Die dünnbeinige Barbara in ihrem unförmigen Riesen-T-Shirt mit einer blinkenden Metallstange in der drohend erhobenen Hand. Und eine Nahaufnahme ihres Gesichts. Aufgerissene Augen unter wimperlosen Lidern und ein verzerrter Mund.
»Da sind Sie ja!« Sie fuhr herum, Manel Bach wich hastig zurück. »Entschuldigen Sie. Aber ich habe es schon bei Ihnen zu Hause versucht. Ich könnte Ihren Auftrag jetzt doch übernehmen.«
»Ich denke, Sie sollen sich für den Fall Reimann bereithalten.«
»Nicht mehr.« Manel schaute auf die Zeitung mit den Fotos. »Nach dieser Fluchtstory hat Fusté wohl das Interesse verloren. Ich bin jedenfalls frei.«
Dagmar verstand die Welt nicht mehr. Sie kramte das dicke Kuvert aus ihrer Tasche und reichte es Manel. »Hier steht alles drin. Wenn Sie Erfolg haben, versuchen Sie doch bitte, Fotos zu machen. Brauchen Sie einen Vorschuss? Ich habe jetzt aber nicht so viel ... Ich könnte Ihnen einen Scheck geben ...«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, Manel nahm das Kuvert. »Wir kennen uns, wir arbeiten beide mit Fusté zusammen.« Er grinste und wieselte davon, erstaunlich flink für seine Körperfülle.
Dagmar stand wie betäubt auf der Straße. Die kunstvollen Muster im schiefergrauen Boden flirrten vor ihren Augen. Fusté hatte Manel abgezogen. Die nächste würde sie sein. Aber allein konnte sie das niemals durchziehen. Sie bewegte sich automatisch. Sie hätte Manel die Unterlagen nie geben dürfen. Wovon sollte sie ihn bezahlen. Sie musste ihn zurückholen. Plötzlich glaubte sie ihn unter den Bäumen auf dem Mittelstreifen noch zu erkennen und rannte hinüber. Autobremsen quietschten, sie blieb auf der Verkehrsinsel stehen. Kein Manel weit und breit. Die herrlich verrückten Fassaden auf der anderen Straßenseite. Das Gaudí-Haus wuchs wie ein Märchenbaum zwischen den beiden Nachbarhäusern. Sonne auf der Kuppel und dem geschwungenen Dach. Sie liebte diese Stadt, und sie würde sich nicht vertreiben lassen. Entschlossen wandte sie sich wieder um und steuerte das Haus mit Fustés Kanzlei an. Schneeweiß renoviert mit Säulen, Balkonen und Erkern bis unter das
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