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Meines Bruders Moerderin

Meines Bruders Moerderin

Titel: Meines Bruders Moerderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Rodrian
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sich wieder ab und war nicht mehr ansprechbar.
    Pia ging über die neuen Piers zum Parkplatz. Die Zementplatten unter ihren Füßen glühten durch die Schuhsohlen hindurch. Das Wasser schwappte trage wie Öl. Sie schloss ihren alten Seat auf und setzte sich hinter das Steuer. Es hätte nicht viel gefehlt, und ihre Handflächen wären an dem Plastiklenkrad festgebrannt.
    Der Verkehr floss langsam und stockend, eine endlose Reihe von Lastzügen. Heiße Auspuffgase waberten statt Luft durch die offenen Autofenster. Erst als sie auf die Ronda de Litoral kam, die große Uferstraße, wurde es besser. Pia nahm das nicht mehr wahr. Sie dachte nach.
    Das Altenheim lag im Poble Nou, ein paar Blocks nördlich des olympischen Dorfs. Pia steuerte an einer Allee aus futuristischen Eisenplastiken vorbei und schaute auf die Hausnummern. Das Heim war ein gelber Backsteinbau, der sich über zwei Straßen hinzog. Vor dem Haupteingang gab es einen Vorplatz mit riesigen Yuccas und rosa blühenden Oleanderbüschen. In der Mitte stand eine vielfarbige Skulptur, die wohl einen auffliegenden Vogel darstellen sollte, aber eher wie ein etwas zerfledderter Schaschlikspieß aussah.
    Pias Klappausweis mit Marke half ihr auch hier schnell weiter.
    Sie wurde in eine sogenannte Empfangshalle gebeten. Gelb gekalkte Wände, ein Bildkalender von der Caixa, eine große Bahnhofsuhr über den rollstuhlbreiten Lifttüren, ein meterhohes Holzkreuz und Heiligenbilder, wo immer man hinsah. Zusammenhängende Sesselreihen und niedrige Tische. Es roch schal nach gekochten Bohnen und Cruz Verde.
    Die stellvertretende Heimleiterin hieß Encarna Albarral. Etwa Ende vierzig. Wasserhelle Augen zu dunklem Haar, schlank, sehnig. Sie trug einen knistersteif gestärkten Kittel und hielt eine dünne Akte in der Hand.
    Sie gab sich höflich und hilfsbereit. »Wir pflegen und versorgen unsere Bewohner, wir kontrolliere sie nicht. Benito Perez lebt bei uns. Das ist richtig. Aber er hat nie versucht, sich in die Gemeinschaft hier einzubringen.«
    »Ich habe gehört, dass er an zeitweiser Demenz litt, vielleicht Alzheimer?« Pia versuchte, höflich und ruhig zu bleiben.
    Die Heimleiterin ließ das nicht zu. »Was wollen Sie uns unterstellen?! Dass wir nicht genug auf ihn aufgepasst haben? Wie sollten wir das denn machen? Ihn anschnallen? Außerdem kommt er immer wieder zurück!«
    »Diesmal nicht.«
    »Aber sicher, nach drei Tagen war er wieder da. Und nichts fehlte ihm, das eine heiße Dusche und ein guter Eintopf nicht wieder gutmachen konnten.«
    »Wie bitte? Und wieso haben Sie das nicht sofort gemeldet?
    »Wozu? Wenn ihn die Polizei zurückbringt, dann sollten Sie das doch als Erste wissen!«
    »Sie meinen, Perez lebt und ist hier bei Ihnen?«
    »Zimmer zwei-zwei-null-eins. Besuchen Sie ihn doch. Er würde sich sicher freuen, er hat sonst niemanden mehr.«
    Pia bedankte sich und rannte fast zu ihrem Auto. Sie ließ den Motor an und fuhr die Almogávers bis zum Arc de Triomf. Sie fand einen Parkplatz direkt vor dem gewaltigen Justizpalast, der mit seinen üppig verzierten Türmen wie ein Märchenschloss hinter den dichten Platanen aufragte.
    Sie lief über die palmengesäumte Grünanlage zum kleinen Bruder des mercat de Santa Caterina hinüber. Mit der Boquería war dieser Markt natürlich nicht zu vergleichen, aber alles, was sie für das Treffen nachher brauchte, bekam sie hier. Frisch und billig. Salat, Tomaten, Zwiebeln, Avocados, eine Honigmelone, prall glänzende Kirschen, drei barras , lange Weißbrote, hauchdünn geschnittenen Serranoschinken, ein Stück cabrales , den wunderbar weichen Ziegenblauschimmel in Weinblättern, gambas und feine Scheiben von frischem bacalao Pia liebte Märkte, und wie immer löste die ornamentale Ordnung der Farben, Formen und Düfte eine Art Rausch bei ihr aus. An einem Stand voller runder Gewürzschalen in allen Gelb-, Orange-, Rot- und Braunschattierungen musste sie sich zwingen, nur vom Curry zu nehmen. Es waren nicht so sehr das Kochen und Essen, es war das Einkaufen. Ihr Vater hatte sie früher immer mitgenommen. Er war ein begeisterter Koch und Gastgeber, er kannte alle Verkäuferinnen, und sie kannten ihn. Die kleine Pia bekam an jedem Stand eine Leckerei zugesteck. Diese sinnlichen, von Gerüchen, Farben und Geschäker erfüllten Stunden an der Hand ihres Vaters waren der Mittelpunkt ihrer Kindheitserinnerungen.
    Als Pia mit drei schweren Tüten aus dem kühlen Markt zurück in die gleißende Sonne trat, wurde ihr bewusst, dass

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