Meines Bruders Moerderin
Ich habe ihn geliebt, aber für ihn war ich nur so eine Art Zwischenstation. Das war zu erwarten. Ich werd's überleben.«
»Wo könnte er sein?«
»Ich nehme an, er ist in den Schoß seiner Familie zurückgekehrt. Diese gitanos können ohne ihren Clan nicht lange überleben.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo dieser Clan gerade sein könnte?«
»Sevilla würde ich sagen, um diese Jahreszeit. Oder auch schon in Frankreich. Klappern die Rummelplätze ab, sein Onkel hat eine Scooterbahn. Du willst wirklich nichts trinken?«
»Danke, nein«, Pia stand auf. Grinste. »Ich will Sie nicht zu lange für Ihre Kunden blockieren, Carla.«
»Die sind ziemlich dünn gesät in meinem Alter«, Carla lächelte, zögerte kurz und drückte Pia plötzlich an ihren Zwei-Melonen-Busen. »Du bist okay, komm wieder vorbei, wenn du noch eine Frage hast. Oder auch so.«
Pia stand auf der Straße und versuchte, sich zu orientieren. Der süßliche Duft von Carlas Parfüm hing schwer in ihrem Haar und ihrem T-Shirt.
Das Haus, in dem Tomás Grau zuletzt gewohnt hatte, lag an einer dieser Schneisen, die gerade für neue Ramblas in das Viertel geschlagen wurden. Brutal und direkt durch. Ganze Reihen von Mietshäusern waren plötzlich nackt. Mit den Vorderhäusern waren auch die Brandmauern weggerissen worden. Die Hinterhöfe waren planiert, den Häusern fehlte die Außenfassade. Und die Zimmer lagen offen für jedermann. Esstische mit Stühlen, Sofas vor dem Fernseher, Klos, Badezimmer.
Pia kannte Kriegsbilder. Berlin oder auch Beirut. Aber diese Ruinen und Häuser waren leer gewesen, unbewohnt. Langsam ging sie über den schuttübersäten Hof zum Haus. Keine Klingelschilder. Die Tür stand offen. Es gab kein Wasser mehr und keinen Strom. Aber überall, hinter allen Türen lebten noch Menschen.
Pia traf zwei Frauen mit Acht-Liter-Containern, die sie an einem Strick zu einem Bündel zusammengezogen hatten, einen Jungen mit seiner kleinen Schwester, die eine nagelneue Kiste mit Mineralwasser hochschleppten und sie hastig zu verbergen suchten, als Pia vorbeikam, und einen jungen Mann mit Pferdeschwanz, der auf dem Treppenabsatz saß und gierig eine Pizza in sich hineinstopfte.
» Hola , guten Appetit. Weißt du, wo Tomás Grau gewohnt hat?«
»Im Vierten oben rechts«, nuschelte er kaum verständlich und stopfte weiter Pizza nach.
Die Tür im Vierten rechts war weit offen. Pia kam in einen bis unter die Decke mit Graffiti übersäten Flur, stieg über verrutschte Abfallberge und, kaputte Möbelstücke und blieb fasziniert vor einer, offenen Tür stehen. Ein kleiner quadratischer Raum. Die Wand zur Straße fehlte. Ein Teppich, ein Regal mit Nippes und alten Fastfoodschachteln und einem Fernseher, der an einer Truckbatterie hing. Ein ramponiertes, aber echtes Ledersofa, zwei Sessel, ein Tisch und Dutzende von Kerzen, die auf jeder freien waagrechten Stelle klebten. Auch hier Graffiti, wo immer noch Platz war. Eine gleichmäßig weiße Staubschicht überzog alles. Drei junge Leute hingen herum und glotzten CNN. Ein Mädchen und zwei Jungen. Sie waren tätowiert und gepierct, dass es nur so blinkte, sie tranken Bier, und es roch süß nach Marihuana. Die fehlende Wand mit Blick auf den Hinterhof, die Straße und die gegenüberliegenden Häuser gaben dem Ganzen einen Hauch von Bühnenbild und Hollywood.
» Hola «, Pia blieb in der Tür stehen.
»Setz dich«, sagte ein Junge, keiner sah auf.
»Ich bin Pia. Ich suche Tomás Grau. Der hat doch bei euch gewohnt. Oder?«
Der Junge, der als Erster gesprochen hatte, schaltete den Fernseher aus. »Wir müssen Energie sparen.« Er grinste schief, die anderen schienen kaum zu merken, dass der Fernseher nicht mehr lief. »Grau ist absolut cool.« Der Junge grinste immer noch, kratzte sich am Arm. Er konnte nicht viel älter als sechzehn sein. Er war lang, klapperdürr und hatte ein rundes, von Pickeln zerfurchtes Kindergesicht. »Der ist weg. Hat immer von der vierten Dimension geredet. Da ist der jetzt. Grau hat voll durchgeblickt.
»Und wo soll das sein?«
»Poona natürlich.«
»Indien? Ist es nicht ziemlich teuer, da hinzufahren?«
»Wir haben gesammelt und zusammengelegt. Er ist wie unser Vater. Wir lieben ihn. Wir gehen auch bald.«
»Du redest zu viel.« In der Tür stand der Pferdeschwanz aus dem Treppenhaus.
»Tino! Endlich!« Das Mädchen sprang auf und umarmte ihn. »Hast du Brot? Reis? Was hast du mitgebracht?!«
»Gab nichts, sorry.« Er lächelte und machte sich frei. Pia ging zur
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