Meines Bruders Moerderin
sie für zehn Minuten diesen ganzen widerlichen Fall und seine Ermittlungen vergessen hatte. Die Realität hatte sie wieder. An einem der Stände vor dem Markt kaufte sie eine große Kühltasche, in der sie ihre Einkäufe verstaute.
Mit einer alten Decke und einem Trenchcoat, den sie seit Wochen in die Reinigung bringen wollte, deckte sie die Kühltasche zu. Der Motor sprang beim dritten Mal endlich an. Über den Carrer Comerç versuchte sie, ins barrio chino , das Raval, hinüberzukommen. Baustellen und Hunderte von Einbahnstraßen, die täglich die Richtung zu ändern schienen. Alle paar Meter eine Fußgängerampel oder ein Zebrastreifen. Lieferanten, die in aller Ruhe ihre Getränkekisten ausluden. Touristenpulks, die ganz Barcelona für eine einzige Fußgängerzone hielten. Mehr Stop als Go.
Mit der Zündung stimmte irgendetwas nicht, der Motor starb dauernd ab und wollte nicht wieder anspringen. Pia hielt den Fuß auch im Stau auf dem Gaspedal und verpestete die Umwelt. Im Kofferraum schmolz der Käse. Dieses Schrottauto machte sie nervös. Es machte sie nicht beweglich, im Gegenteil, es lähmte sie. Sie hasste es, in der Stadt Auto zu fahren. Neidisch sah sie einem Jungen nach, der auf seinem Mountainbike gegen die Fahrtrichtung durch die Einbahnstraße flitzte.
Die Straße, in der Django Albiol zuletzt gelebt hatte, hatte sich noch nicht verändert. Schmal und gewunden zwischen grauen Häusern und Balkonen voller Wäsche. Vor den Eingängen saßen die Frauen auf Stühlen, strickend, schwatzend. Aus trüben Bars dudelte Radiomusik. Eine grüne Balkentür, die von den hundertfach aufgetragenen Farbschichten wulstig geworden war.
Ein Viertel, das jetzt schlief, das erst nachts zu vibrierendem Leben erwachte. Wie fast überall in Barcelona standen an den Klingelschildern keine Namen. Pia drückte 3b.
»Ja?«
»Pia hier. Ich will zu Django.«
Husten, Pause, dann endlich das Summen des Türöffners. Ein winziger Innenhof, ein dunkles Treppenhaus. Die Treppe war steil und eng. Ein verrosteter Kinderwagen, volle Mülltüten, ein Fahrrad ohne Lenker und Vorderrad. Eine Frau keifte, Fernseher röhrten. Pia stieg weiter. Die Wohnung 3b war nicht etwa im dritten Stock, sie war im vierten. Irgendwann waren die kleinen Wohnungen dieser Häuser in noch kleinere aufgeteilt worden. Licht aus einer Dachluke. In der linken Tür stand eine Riesin. Aus Pias Sicht maß die Frau knapp zwei Meter, wog locker zwei Zentner und war gute sechzig Jahre alt. Sie trug eine blondierte Löwenmähne, ihr herzförmiges Gesicht hatte kaum Falten, und ihr üppiger, tief gebräunter Körper war in nicht viel mehr als einen knappen Papageienpareo gehüllt.
Pia zögerte vor so viel geballter Weiblichkeit. »Ist Django da?«
»Was soll der Scheiß?« Die Stimme klang erstaunlich hoch und weich, ganz ähnlich wie die von Marilyn Monroe. »Ich hab ihn vor siebzehn Monaten bei der Polizei als vermisst gemeldet. Und da kommst du an und fragst blöd nach ihm. Oder was. Du denkst doch nicht etwa, du könntest dich hier als eine seiner Liebschaften ausgeben.« Sie lachte laut auf. »Na, komm schon rein.«
Ein enger Flur, mit Schränken verstopft, eine düstere, veraltete Küche mit einem winzigen Balkon, der fast den Balkon des gegenüberliegenden Hauses berührte, ein kleines Wohnzimmer mit einer quietschgrünen Waldtapete an einer Wand, einem Regal voller Bücher an der anderen, einem Tisch mit zwei Stühlen, einem Ohrensessel mit einem Hebel für Rückenmassage, einem Fernseher und der offenen Verbindungstür zu einem plüschroten Schlafzimmer, das nur aus Spiegeln und einem herzförmigen Bett zu bestehen schien.
»Setz dich. Was darf's sein? Champagner? Whisky, ein kleiner Imbiss?« Ironisches Lächeln.
Pia setzte sich an den Tisch. »Wie heißen Sie?«
»Ich hatte also Recht«, sie lachte laut auf. »Die Polizei rieche ich auf tausend Meilen. Was ist? Habt ihr ihn gefunden?«
»Wollen Sie mir Ihren Namen nicht verraten?«
»Warum nicht, du kennst ihn doch sowieso. Carla Bernabeu. Bekannt als La Rubia. Ich war mal naturblond. Ist also heute nur ein bisschen geschummelt. Kokettes Kleinmädchenlächeln. »Er ist tot?« Ihr Gesicht zerfiel und zeigte das wahre Alter.
Pia wandte den Blick ab. »Ich weiß nicht. Wir suchen ihn.«
»Hat er was angestellt?«
»Weiß ich auch nicht. Ich würde ihn nur gern sprechen.«
»Gut.« Sie richtete sich wieder auf. »Ich würde ihn auch gern sprechen. Aber er ist abgehauen. Er ist jung, ich bin alt.
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