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Meines Bruders Moerderin

Meines Bruders Moerderin

Titel: Meines Bruders Moerderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Rodrian
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erklären, was sie zu dieser radikalen Reaktion gebracht hatte. Ekel. Ekel war das einzige Gefühl, an das sie sich aus dieser Zeit erinnern konnte.
    Anna verschwand.
    Eines Morgens nach dem Frühstück. Gerda schlief, Polly und Frankie waren noch unterwegs. Sie klaute alles Bargeld, das sie im Haus finden konnte. Sie kannte eine kleine Höhle in der Felsenküste, die kaum bekannt und nur schwer zugänglich war. Dorthin brachte sie reichlich Vorräte, ein paar Bücher, Decken, Vitaminpillen, kanisterweise Trinkwasser und Taschenlampenbatterien. Sie rechnete mit zwei bis drei Monaten.
    Dort oben blieb sie, bis sie keine Tränen mehr hatte und keine Luft mehr zum Schreien. Niemand hörte sie, niemand fand sie. Irgendwann kam ein kleines schwarzweißes Hündchen zu ihr hereingeklettert. Sie nannte es Amigo und teilte ihre Vorräte mit ihm. Nachts drückte sie Amigo an sich und fühlte zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie Nähe.
    Eines Morgens stand sie am Rand ihrer Felsenhöhle und wusste, dass sie es geschafft hatte. Der Horizont färbte sich von silbern zu rosa, dann hob sich langsam die Sonne dick und golden aus dem Meer und spiegelte sich im unendlichen Wasser. Anne atmete tief ein. Sie lebte wieder.
    Sie hatte keine Vorräte mehr, aber Geld war noch da. Zusammen mit Amigo kletterte sie zum Strand hinunter und wusch ihre Klamotten. Sie schwamm ins Meer hinaus und fühlte sich zum ersten Mal wirklich frei. Fast glücklich. Sie wartete nicht, bis die Kleider trocken waren, sie zog sie klamm an und lief am Ufer entlang zum Hafen. Kurz bevor sie Ibiza erreichte, zog sie die Bundschnur aus ihren Hosen und band sie Amigo als Halsband und Leine um.
    Die Autofähre nach Denia sollte in wenigen Minuten ablegen, Annas Geld reichte gerade noch für das Ticket. Es gab Ärger wegen Amigo, er hatte keine Marke und kein richtiges Halsband, und überhaupt waren Hunde an Bord äußerst unerwünscht. Ein Junge half ihr und bot Amigo für die Zeit der Überfahrt einen Platz in seinem Auto an.
    Er war in ihrem Alter und hatte rotes Kurzhaar und so breite Schultern, dass die Nähte seines T-Shirts kaum hielten. Auf seinen Armen kringelten sich winzige Löckchen wie aus Kupferdraht. Er hatte leuchtend blaue Augen und Sommersprossen auf einer für dieses Klima viel zu hellen Haut. Und ein schüchternes Lächeln. »Du siehst aus, als wäre dir kalt.« Er gab ihr einen Pappbecher mit heißem Milchkaffee. »Ich bin Paco.«
    Paco kam aus Alicante und arbeitete dort in der Autowerkstatt seines Vaters. Sie standen zusammen an der rostigen Reling wie Kate Winslet und Leonardo diCaprio auf der Titanic. Aber er berührte sie nicht, und sie sprachen kaum. Erst, als das Schiff in Denia einlief, fragte er sie, ob sie mit ihm kommen wollte.
    Die Werkstatt lag etwas außerhalb der Stadt, neben dem Wohnhaus in einem weinüberwucherten Hof. Pacos Eltern und Geschwister nahmen Anna auf, als würde sie zur Familie gehören. Herzlich und selbstverständlich. Keiner stellte Fragen, und sie akzeptierten sogar Amigo, obwohl sie wegen ihrer Hauskatze Mafalda eigentlich keine Hunde mochten. Anna schlief im Zimmer der beiden jüngeren Schwestern Lina und Pepita. Und arbeitete tagsüber mit in der Werkstatt. Paco zeigte ihr alles und half ihr, wo er nur konnte. Sein Vater beobachtete sie drei Tage lang, merkte, dass sie willig und begabt war und bezog sie wie selbstverständlich in den Werkstattalltag mit ein. Anfangs konnte sie nicht schwer heben und wurde schnell müde, aber Pacos Mutter passte auf, dass sie nicht zu viel arbeitete und fütterte sie richtig heraus.
    Nach einem Jahr hätte keiner ihrer früheren Freunde sie wiedererkannt. Sie war ein ganzes Stück gewachsen, sie war immer noch dünn, aber zäh und kräftig. Und sie war ein richtig guter Automechaniker geworden.
    Anna fühlte sich so wohl wie noch nie in ihrem Leben. Sie wurde geliebt und sie wusste, wohin sie gehörte. Die älteste Schwester Rita, die in Valencia arbeitete, und der große Bruder Javier, der bei der Marine diente, die kleinen Schwestern, die Eltern, sie alle hatten Anna ins Herz geschlossen wie eine Schwester, wie eine Tochter. Seit sieben Monaten schlief sie mit Paco, seit acht Wochen planten und bauten sie in ihrer Freizeit an einem eigenen Häuschen hinter dem Hof. Und Amigo war der Liebling aller, vor allem, seit auch Mafalda ihm ihre Mäuse brachte.
    Anna war glücklich. Sie hatte ihr früheres Leben abgeschlossen und vermisste nichts. Bis eines Tages Polly und Frankie

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