Meines Bruders Moerderin
Kurzwarenladen. Man bot zwischen Garnen, Bordüren, Socken und Unterwäsche auch Barcelona-Fußballkappen, Aufkleber, Schals, T-Shirts und andere schrille Souvenirscheußlichkeiten an. Doch der Kampf ums Überleben war bereits so gut wie verloren.
Der kleine Stempelladen hatte sich vor fast hundert Jahren in die Mitte gequetscht. Eine Rundbogentür zwischen zwei schmalen hohen Fenstern. In dem einen ein riesiger, runder, altmodischer Amtsstempel, darunter eine Palette bunter Stempelkissen, im anderen ein verstaubtes Glasregal mit verstellbaren Datumsstempeln, eingetrockneten Signetstempeln und einer Tafel mit langweiligen Stempelandrucken.
Janet ging hinein. Ein Glöckchen plingte. Der Raum war klein, hoch und düster nach der grellen Sonne. Eine Regalwand über die gesamte Rückseite aus dunklem Holz mit hunderten von kleinen Schubladen für die jeweiligen Muster und Vorlagen, eine Theke aus blank poliertem Mahagoni mit gläsernen Schaukästen links und rechts. Eine schmale Treppe zu einem Vorhang in halber Höhe. Es roch nach Gummi, Farbe und Leim.
Sergio kam hinter dem Vorhang hervor und humpelte die Treppe herunter. Er war klein, schmal, gebeugt und sehr alt. Schlohweißes Haar über einem braun gegerbten Gesicht und ein blütenweißer Kittel mit zwei Stiften in der Brusttasche. Sergio hatte es als junger Soldat nach Algerien verschlagen und dort hatte er als Leibkoch eines englischen Schriftstellers noch ein paar Jahre drangehängt. Als der Schriftsteller starb, kehrte Sergio heim nach Barcelona und übernahm den Stempelladen seines Vaters. Auch das war schon viele Jahrzehnte her. »Mademoiselle Jeanette! Ma petite Chou-Chou! I am very pleased to see you. How do you do?« Er sprach immer noch leidlich gut französisch und englisch und begrüßte Janet strahlend.
»Merci, Sergio. Nice to meet you«, Janet lachte und legte ihre Abholzettel auf die Theke. Sergio brauchte natürlich keine Zettel. Janet war sein bester Kunde, sie hatte alle Stempel für die Detektei bei Sergio bestellt. Ungeachtet der Möglichkeiten des Computers. Sie hoffte, Sergio damit zu helfen. Sie wollte nicht, dass alle diese kleinen alten Läden in Barcelonas barrio gótico starben. Modernisiert wurden. Entkernt und von jungen Designern neu verglast. Natürlich wusste sie, dass es sinnlos war.
Janet setzte sich an eine Ecke der Theke und stempelte die Rückseite der dreißig Fotos ab. Ein runder Stempel, mit Doppelrand wie bei einem Amtssiegel.
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Llimona 5
Dazu Telefon, Fax und E-Mail. Sergio servierte heißen Mokka und winzige Bittermandelplätzchen auf einem Silbertablett. Und erzählte eine seiner skurrilen Geschichten aus dem Algerien vergangener Zeiten. Kein Kunde störte sie.
36
Die Beschließerin, die ihr das Frühstück brachte, war neu. Auf den ersten Blick sah sie aus wie ein Mann. Nicht groß, aber breitschultrig, schmalhüftig, die Uniform von einem schweren Ledergürtel mit Silbernieten in der nicht übermäßig schlanken Taille zusammengehalten. Das gerötete Bauerngesicht wie nackt unter einem dunklen Stoppelkurzhaarschnitt. Erst, als Barbara ihr das zerkratzte Plastiktablett abnahm, bemerkte sie, dass die Augenbrauen sorgfältig in eine schmale Form gezupft und die Lippen durch ein Permanent Make-up vergrößert worden waren. Schlupflider und lange Wimpern verbargen die Augen. Knappes Lächeln. »Hola, ich bin Sol.« Sie wandte sich ab und schob ihren Trolley weiter.
Soledad, die Einsamkeit. Wie konnte man seine Tochter so nennen. Barbara hockte sich auf den Pritschenrand, stellte das Tablett zwischen ihren Füßen ab und vergaß Sol. Ihre Hände waren noch immer bandagiert, aber die Fingerspitzen sahen schon rosa hervor. Yolanda versorgte sie mit Salben und Cremes und zeigte ihr, was sie tun musste. Übungen, Bewegungen, Massagen. Allmählich wurden die Schmerzen erträglich und die Beweglichkeit nahm von Tag zu Tag zu. Es gab Milchkaffee, ein halbes bocadillo mit Tomaten und eine geschälte Orange. Der Kaffee war trinkbar, das Brot frisch.
Seit Yolanda sich den Rücken von Inés Alvarez regelmäßig vornahm, hatte sich viel verändert. Barbara hatte eine Einzelzelle, sie bekam Hilfe, genießbares Essen und vor allem durfte Yolanda sie regelmäßig behandeln. Yolanda konnte keine Wunder bewirken, Barbara würde ihr Leben lang Narben an den Händen behalten, vor allem an der linken, aber das störte sie nicht mehr sonderlich.
Sie trank den Kaffee mit Genuss. Hinter dem winzigen
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