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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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Terror durch die NSDAP. Vormittags Sitzungen, mittags 1 h 48 zurück, Geburtstag bei Jüttners im Smoking, ratlose Diskussion. Soll man Stahlhelmer werden?« Das ist der Bund der Frontsoldaten, 1918 von Franz Seldte gegründet, im Grunde nicht mit der Kneifzange anzufassen. Aber keine Nazis. Noch nicht. Franz Seldte ist jetzt Arbeitsminister im neuen Kabinett. Am nächsten Vormittag, Sonntag, fahren sie alle nach Magdeburg, um sich eben diesen Seldte in der »Harmonia« anzuhören. »Alles gute Publikum ist da, aber das macht uns nicht klüger.« Nachmittags ist Kontor, dann Gäste zu Hause – »Mutter ist tief deprimiert und innerlich zerrissen über die politische Entwicklung, Judenboykott etc. – Wilde Zeiten!« Wo ist Kurt?
    Ich schleiche um meinen Computer herum seit Tagen. Ich kann nicht weiterschreiben. Ich fürchte mich. Ich fürchte mich vor den nächsten Eintragungen in HGs Tagebuch. Habe ich mir nicht wieder und wieder vorgebetet, ich kann ihn mir nicht backen anders als er ist? Es ist sein Leben. Er hat dafür bezahlt. Ich muß mich raushalten. Ich bin Chronistin. Aber ich begleite ihn jetzt schon so lange, hätte er nicht? Nein. Er hätte nicht. Also gut – 3. April 1933: »Abends Arbeitgeberverband wegen evtl. Ausschluß des Juden Jacobsohn – Zeichen der Zeit.«
    Des Juden Jacobsohn. HG ist kein Antisemit. Ich kann das belegen über die Jahre. Und jetzt: der Jude Jacobsohn. HG ist im Vorstand des Arbeitgeberverbandes – hätte er nicht? Nein. Er hätte nicht. Es gibt eine »gleichgeschaltete« Verordnung. Der Reichsverband der Deutschen Industrie meldet gerade Vollzug: »Die semitischen Mitglieder sind ausgeschaltet.« Und selber austreten? Wem soll das nützen? Mir. 4. April: »Nachmittags nach schwerem Überlegen Besuch beim neuen Nazi-Stadtverordneten-Vorsteher Gerlach, um Fühlung zu nehmen. Bis zehn Uhr abends Verkaufsbedingungen für Süßlupinen ausgearbeitet«.
    Mittwoch, 5. April: »Früh erst Kontor. Erhebliche Geldsorgen. Unter Mittag Pg. Otto Lehmann, M.d.L. wegen politischer Fühlungnahme besucht«. 12. April: »Politisch ist der Teufel los. Das Feuer der Revolution brennt gründlich und ergreift jetzt auch mich!« 13. April: »Vorm. erst Kontor, dann Vorstandssitzung des Arbeitgeberverbandes, in der zufolge der politischen Entwicklung Herr Jacobsohn als Jude ausgeschlossen werden muß. Nachm. wieder Kontor bis spätabends. Brief an Otto Lehmann wegen NSDAP«. Höre nur ich die Veränderung in der Sprache? Das ist HGs privates Tagebuch, in dem steht: »zufolge der politischen Entwicklung – Herr Jacobsohn als Jude«. Pfeift da einer im Wald, entrichtet er den Zoll für die Initiation?
    Donnerstag 20. April: »Besuch der Parteigenossen Ogdenhoff und Lehmann. Abends Geburtstagfeier Hitlers auf dem Domplatz und im Stadtparksaal«. Der Reiz der Jahr-um-Jahr-Tagebücher liegt darin, daß man gucken kann, was war an diesem Tag in den Jahren rauf und runter. Hitlers Geburtstag findet bei HG danach nicht mehr statt. 21. April: »Abends bei Otto Heine wegen Stahlhelmfragen«. 23. April: »Nachm. per Auto nach Wegeleben, Besprechung über Wehrsportfragen«. Was macht HG da? Und warum hat er es so eilig? 27. April: »Nachmittags Ogdenhoff bei mir; auf seine Bitte unterschreibe ich nun doch meine Anmeldung zur NSDAP, da ab 1. Mai Mitgliedersperre ist. Abends Kammermusik bei Otto Heines. Kurt« – das ist Kurt jun., der Bruder – »spielt sehr schön Beethoven. Riesenauftrieb. Dauert bis 2 h.« Heines sind eine ebenfalls aufwendige Familie mit einem aufwendigen Haus in Halberstadt. Das wird sehr festlich gewesen sein. HG feiert.
    Und er meint es ernst. In Magdeburg bespricht er sich mit »Pg. Fahrenholz über Mitarbeit in der NSDAP«, und am 1. Mai geht es richtig los. HG im Tagebuch: »Feiertag der nationalen Arbeit: früh feierliche Flaggenhissung (Hakenkreuz!) auf der Woort, dann Festzug durch die Stadt, Reden auf dem Domplatz, Riesenbeteiligung. Mittags 12.30 Abfahrt unserer ganzen Belegschaft (103 Köpfe) in drei Postautos. In Trautenstein Kaffee, in Waldmühle bei Blankenburg Abendessen mit Musik, Aufführungen, Ansprache von mir und Hitlerrede im Radio«. Der spannt schon wieder den Herrgott ein für die Partei: »Herr, das deutsche Volk ist wieder stark in seinem Willen, stark in seiner Beharrlichkeit, stark im Ertragen aller Opfer. Herr, wir lassen nicht von Dir! Nun segne unseren Kampf um unsere Freiheit und damit unser deutsches Volk und Vaterland.«
    Es ist nicht

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