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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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nachzuvollziehen, heute. Ich habe Hitlerreden gelesen, vor allem gehört. Die Wirkung dieses keifenden Gnoms ist mir ein Rätsel. Aber ich war nicht dabei, ich bin anders sozialisiert, unter anderem dank dieses keifenden Gnoms. Trotzdem wüßte ich gern, was HG geritten hat. Da fällt mir Verschiedenes ein. Daß alle sich drängeln, dabei zu sein, ist eins. Der Klassenunterschied zählt nicht mehr, die Crème de la Crème nicht nur der Halberstädter Gesellschaft reiht sich ein. Alle die Bridge-Spieler, die Tennis-Partner, die Jagd-Kumpane aus Elses Gästetagebuch gehören plötzlich dazu. Wer widersteht, sind Arbeiter – manche, Sozialdemokraten und Kommunisten. Das kann es ja wohl nicht sein. Die Kirchen jubeln Zustimmung, die meisten. Auch eine gute Adresse.
    Aber wenn schon dabei sein, dann besser frühzeitig, wird HG sich gedacht haben. Wie war das noch, als er seiner Einberufung zuvorkommen mußte, damit er Junker werden konnte und nicht bei den Pionieren ohne Prestige landete? Für den Adel der ersten Stunde ist es zu spät, und was der wert ist, haben SA-Führer Ernst Röhm und andere erfahren, als sie 1934 ermordet wurden. Aber so weit sind wir noch nicht. Frühzeitig also, sonst sind die Führungsposten besetzt. Und HG steht nach seinem Selbstverständnis eben vor einer Kompanie, nicht in der dritten oder siebten Reihe unter Leuten, die alle gleich aussehen.
    Fürs Geschäft ist es auch nicht verkehrt. Nicht nur die Gutsbesitzer aus der Gegend, vor allem die Leute im »Reichsnährstand«, mit dem die Firma es jetzt nolens volens zu tun kriegt, sind Parteigenossen. Aber ich tue HG Unrecht, wenn ich ihm unterstelle, er habe sich aus Opportunismus dort hineinbegeben. Das wäre schon schlimm genug. Doch ich denke, der hat nicht seine Seele verkauft um eines praktischen Vorteils willen. Der hat denen seine Seele gern gegeben, fürchte ich. Er holt nach, was seit 1918 unterbrochen war. »Drei Hurras für Kaiser und Vaterland«, die Kriegsspiele auf Juist und jetzt die »große nationale Erhebung« liegen auf einer Linie.
    Rechts und links davon gab es nichts als Demütigungen: der schmähliche Ausgang des ehrlos geendeten Krieges, die Nachtund Nebel-Rückkehr des Regiments nach Tilsit, der absurde Vertrag von Versailles, die Schikanen im von Frankreich besetzten Ruhrgebiet, die Horrorzeiten der Inflation und die Auflösung aller Normen in den Mord- und Terrorjahren. Die Republik hat sein Vertrauen in die parlamentarische Demokratie ruiniert, so HG je eins hatte, und jetzt schart sich das bisher so zerrissene Volk hinter einem Mann, der aller Welt verkündet: Wir sind wieder wer, und wir werden es euch zeigen.
    HG hat nicht das intellektuelle Rüstzeug dagegen. Er kann nicht denken außerhalb nationaler Größe und deren Beschädigung. Das können die Bewohner der »Feindländer« übrigens auch nicht. Über den Tellerrand zu blicken, gilt als »internationalistisch«, und das sind nur die Kommunisten. Außerdem hat HG nicht die Phantasie – wer hatte die schon! – sich vorzustellen, was aus diesem Dritten Reich werden würde. Lange Zeit war er skeptisch, das ist er auch noch. Der »gemeine Pöbel« hat sich ja nicht geändert in seiner Skrupellosigkeit und Brutalität. Aber HG denkt – wie viele haben das gedacht! –, er könne was machen. Das Tagebuch der nächsten Wochen und Monate ist voll von Versuchen, richtig was zu tun. »Parteiversammlung – trostloser Eindruck«, »schlecht vorbereitete Veranstaltung – da muß etwas geschehen«. Er verbringt Abende mit dem Abfassen von Papieren, einmal opfert er eine ganze Nacht für einen »offenen Brief an Dr. Goebbels«. Was immer da dringestanden hat, ich hoffe, er hat ihn nicht abgeschickt.
    Viel später, in der Festschrift zum 150jährigen Bestehen von I. G. Klamroth 1940, formuliert HG, was er mühsam hat einsehen müssen: »Wir spürten die Änderung der Verhältnisse gegen die Zeit vor 1933 – ungeachtet aller Vorstellungen und Abänderungsvorschläge hielt die nationalsozialistische Führung an dem von ihr als richtig erkannten Prinzip unverändert und eisern fest.« Da handelt es sich um rüde Eingriffe im Landhandel, aber das Muster ist immer gleich. Die Nazis machen ihr Ding. Die haben nicht auf jemand wie HG gewartet. Das mit der Führungsposition wird nichts. Der Mann schmückt die »Bewegung«, weil er prominent ist in Halberstadt, sonst soll er sich raushalten, vor allem soll er den Mund halten. Er ist lästig.
    HG: »Versammlung der

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