Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Blut fließen?« Wieso nur deutsches?
HGs Regiment wird verlegt ins Westfälische, da langweilen sie sich zu Tode, weil ständig Übungen angesetzt sind – »friedensmäßige Kommißarbeit, aber sie muß wohl sein, wenn wir für den Einsatz schlagfertig bleiben sollen«. Wo und was dieser Einsatz sein wird, keiner weiß es. Die Kriegssituation ist unbestimmt. Um so bestimmter ist das Schicksal Polens, das Hitler und seine Vasallen sofort in Angriff nehmen. Eine riesige »Umvolkung« ist geplant: Auf dem Boden des Deutschen Reiches, vergrößert durch die in Polen annektierten Gebiete, sollen nur noch Deutsche leben. Was immer nicht dazugehört – Juden, Zigeuner, Polen »nicht guten Blutes« – wird ins Generalgouvernement umgesiedelt oder »vernichtet«.
Heinrich Himmler formuliert, wie den »Fremdvölkischen« durch die Reduzierung auf eine vierjährige Volksschule ihr Sklaven-Dasein vorzuzeichnen sei: »Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: Einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, daß es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich.« Derartige »Untermenschen«, die mangels ihrer »Blut-Qualität« nicht »eingedeutscht« werden können, sollen als Zwangsarbeiter nach Deutschland gebracht und im Straßenbau, auf Kohlenhalden oder in der Landwirtschaft eingesetzt werden.
Was den Umgang mit den Ostjuden betrifft, so sind die Methoden vorerst nicht klar, aber das Ziel steht fest: Im »Großdeutschen Reich« haben sie nichts zu suchen. Bis Ende 1939 werden schon mal rund 90 000 von ihnen aus den jetzt »deutschen« Gebieten ins Generalgouvernement vertrieben, nach Lodz, Warschau und Radom. Das sind 90 000 einzelne Menschen, die haben Ehefrauen, Geliebte, alte Eltern, ein Geschäft im Erdgeschoß. Ich sehe deren Häuser vor mir: Die Grütze noch im Topf, die Schulbücher der Kinder auf dem Küchentisch, im Badezimmer weicht Wäsche. Das Leben atmet noch in den Wänden, und ein zurückgelassener Kanarienvogel singt in einen Tag, der hell ist, als sei nichts geschehen.
Die Nazis sind »flink wie Wiesel«. SS-Hauptsturmführer Adolf Eichmann veranlaßt Transporte eines jüdischen Vorab-Kommandos aus dem tschechischen Mährisch-Ostrau in die Gegend südlich von Lublin, das dort ein Lager errichten soll. Aus Österreich sowie Böhmen und Mähren beginnen die Deportationen dortiger Juden nach Polen. Im Oktober 1939 wird das erste Ghetto eingerichtet. Verhungern lassen ist eine Mord-Methode, Vergiften und Erschießen andere, es sind Umsiedlungspläne nach Madagaskar und an die Eismeerküste im Gespräch. Das ist noch nicht die »Endlösung der Judenfrage«. Die kommt 1942.
Wissen HG und Else davon? Ich denke, nein, obwohl sie immer noch die dänische Zeitung lesen. Gab es damals Reporter wie heute, die in den düsteren Ecken dieser Erde herumkriechen, um die Wahrheit ans Licht zu holen? Es existieren Berichte aus deutschen KZ’s, die von Exil-Literaten veröffentlicht wurden in Amsterdam oder Paris. Aber machen wir uns nichts vor: Die deutsche Emigrantenszene beherrschte nicht die internationale Öffentlichkeit, außer Nobelpreisträger Thomas Mann fand kaum einer Gehör. Noch war Nazi-Deutschland kein outcast, die Engländer hatten trotz Beistandspakt keinen Finger gerührt, um Polen zu helfen, und was das Schicksal der polnischen Juden betraf – die Briten hatten genug zu tun mit ihren renitenten Juden in Palästina.
Else und HG werden auch nichts über die Euthanasie gewußt haben. Nach dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, also der Zwangssterilisation, vom 14. Juli 1933, unterzeichnet Hitler jetzt einen Erlaß, der die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« anordnet. Am 12. Oktober 1939 wird Schloß Grafeneck in Württemberg beschlagnahmt, mit einer Gaskammer ausgestattet, weitere Tötungszentren kommen dazu. Die Ermordungen erfolgen mit Injektionen, mit Dynamit, die Patienten werden erschossen, seit Januar 1940 vergast. Bis zum Sommer 1941 sind mehr als 70 000 Geisteskranke, Behinderte, Krüppel in Deutschland »liquidiert« worden. Weil die Kirchen protestieren, werden die Tötungsaktionen in die besetzten polnischen Gebiete verlegt.
Konnten HG und Else das wissen? Es stand nicht in der Zeitung, natürlich. In ihrem Bekanntenkreis hatte niemand ein behindertes Kind, dessen Bedrohung sie hätte alarmieren können. Es gab keinen Anlaß, die Phantasie in diese
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