Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Deutschland Stalins Sowjetunion an mit drei Millionen (!) Mann. Napoleon ist auch im Juni in Rußland einmarschiert, das war 1812, wir kennen das Ergebnis von damals, wir wissen, wie es diesmal ausgeht. Aber noch heißt es, der Krieg gegen den völlig überraschten Gegner werde in 14 Tagen gewonnen sein. Acht Monate später kommt HG an seinen neuen Dienstort, nicht bei der kämpfenden Truppe, er ist »verantwortlicher Offizier des Abwehrkommandos III« in Pleskau geworden, das liegt an der Grenze zu Estland, und dort sitzt die Heeresgruppe Nord, bei der HG direkt angebunden ist. Der Job ist offenbar eine Auszeichnung, HGs Vorgänger war ein Oberstleutnant, dem nachzufolgen für einen kleinen Hauptmann Ehre ist, wozu er von allen Seiten beglückwünscht wird. HG landet in einem Armageddon biblischer Dimension, über das der Generalstabschef des Heeres Franz Halder in seinem Tagebuch schreibt, »daß dieser Krieg zu entarten beginnt in eine Prügelei, die sich von allen bisherigen Formen des Krieges loslöst«. Hitler dazu am 3. März 1941: »Dieser Feldzug ist mehr als nur ein Kampf der Waffen. Er ist der Kampf zweier entgegengesetzter politischer Systeme, die Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen.«
Hitler am 30. März: »Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf.« Wie in Polen geht es um die Auslöschung der Eliten, der berüchtigte Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941 gipfelt in dem Satz: »Politische Hoheitsträger und Leiter (Kommissare) sind zu beseitigen.« Das Ziel: »Die Germanisierung des Ostraums durch Hereinnahme von Deutschen und die Ureinwohner als Indianer zu betrachten«. Es gibt Heerführer, die sich dem widersetzen.
Im Osten ist die Hölle eingezogen: Massenexekutionen, Deportationen, Aushungerung. Millionen, Kriegsgefangene wie Zivilbevölkerung, sind krepiert. Die sowjetischen Juden werden vom ersten Tag des Ostfeldzugs an ermordet, dafür sind die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei da, die sich Hilfsmannschaften suchen allenthalben. Ich zähle in den Aufzeichnungen über deren »Vollzugstätigkeit« im ersten halben Jahr des Rußlandkrieges etwa 600 000 »liquidierte« Juden, ab März 1942 beginnen die Deportationen aus Westeuropa.
Ich denke an die Juden in Grodno, an Kurt im Ersten Weltkrieg, an den Wettstreit der Schlitzohrigkeit gepaart mit Respekt vor dem anderen – nicht einer von denen wird überlebt haben. Kesselschlacht um Bialystok, 30 000 Juden in der Stadt, wer die Kämpfe überstanden hat, wird sein eigenes Grab geschaufelt haben, in das ein Genickschuß ihn zu den übrigen Namenlosen schickt. Massenerschießungen in Riga, in Kiew – wohin ist HG da geraten? Hat er das gewußt, als er so dringend nach Rußland wollte?
Er schreibt nichts darüber, natürlich nicht. HG schreibt auch nicht, daß in den Führungsetagen der Ostfront der Teufel los ist: Die Generalfeldmarschälle an den Spitzen der Heeresgruppen und mehrerer Armeen demissionieren oder sie werden von Hitler ausgetauscht, weil der in den schweren Kämpfen während der sowjetischen Winteroffensive keinen Fußbreit Boden preisgeben will. Wer seine Truppen zurückzieht, gilt als Hochverräter, Generalleutnant Hans von Sponeck wird deswegen zum Tode verurteilt, Generaloberst Erich Hoepner aus der Armee ausgestoßen. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall Walther von Brauchitsch, reicht seinen Rücktritt ein. Hitler übernimmt selbst den Job.
Nach dem Überfall der Japaner auf den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 treten die USA in den Krieg ein. Das hatten wir doch alles schon mal: unbeschränkter U-Bootkrieg, die »rücksichtslose Ausbeutung der besetzten Gebiete zugunsten des Reichs«, die Sammelei für alles und jedes, Gold, Geld, Abfall, die Verantwortung der Heimatfront. Ich höre Ludendorff, ich höre Hindenburg, ich höre den Kaiser. Jetzt heißen sie anders, die Barbarei ist perfektioniert, aber das Muster ist geblieben. In Deutschland wird Woll- und Winterkleidung für die Front gesammelt, alles in allem kommen 67 Millionen Stück dabei zusammen, fast vier Millionen Pelze, viereinhalb Millionen Paar Handschuhe und fast acht Millionen Paar Pulswärmer. Auch die Skier werden eingezogen, das trifft die Halberstädter hart, denn es liegt hoher Schnee unter strahlendem Sonnenschein bei grimmiger Kälte.
Auch HG meldet arktische
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