Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Geschäfts nicht mehr gewachsen. Zwar ist der »Privatsekretär« Hans Litten Gold wert zu Hause, der Prokurist ein zuverlässiger Mitarbeiter – trotzdem ist HG für die kaufmännische Kreativität in diesen reglementierten Zeiten unentbehrlich. Als einziger in seinem militärischen Umfeld schlägt er sich mit einer solchen Doppelbelastung herum, alle anderen sind Berufsoffiziere, »und die befinden sich im Krieg in der Erfüllung ihres Lebensberufes, die kennen nicht die Sorgen eines Reserve-Offiziers um einen Hauptberuf oder -betrieb in der Heimat, und mancher von ihnen findet es direkt verächtlich, wenn ein Reserve-Offizier von der Notwendigkeit spricht, sich nun endlich mal wieder um seine bürgerliche Existenz kümmern zu müssen«.
Anfang Mai macht sich HG etwas im estnischen Reval zu tun, das sind »400 Kilometer schwierige Straßenverhältnisse, die Landschaft von Kämpfen gezeichnet«. Er findet den Weg nach Schloß Arroküll, wo er 1918 seine Leidenschaft für Verwaltungs-Organisation austoben durfte, jetzt ist dort eine Haushaltsschule ähnlich wie Ursulas Reichsfrauen-Anstalt. HG geht in das Zimmer mit dem weiten Blick über den Park, wo er damals als Fähnrich gewohnt hat, »und wo ich glaubte, mein Leben sei zu Ende«. Er läßt seinen begeisterten Fahrer in der Obhut der niedlichen Haushaltsschülerinnen zurück und fährt allein weiter nach Sallotak, das ist der Ort, wo HG Franz Vitt erschossen hat:
»Ich ging über dieselbe Wiese, wo damals die Schüsse fielen, und stand vor dem Bauernhaus, in das wir ihn hineintrugen. Die estnischen Bauern im Sonntagsstaat, die mich verwundert beobachteten, mögen dieselben Menschen gewesen sein, die mich damals zu Hilfe riefen, oder ihre Kinder. Ich habe sie nicht gefragt, und so sahen sie mich nur verwundert an, was ich in diesem verwunschenen Walddorf wohl wollte. 24 Jahre ist das nun her, für mich ist es, als ob es gestern gewesen sei.« HG ist »ziemlich stumm« auf der Weiterfahrt nach Reval, eine Einladung des dortigen Dienststellenleiters zum Abendessen schlägt er aus. Vier Wochen später fährt er noch einmal dorthin. In einem handschriftlichen Zusatz auf dem Sonntagsbrief an Else notiert er: »Ich war noch einmal in Sallotak und habe das Grab gefunden. Vielleicht kann ich jetzt meinen Frieden mit ihm machen.«
Die Familie erfährt Schnurriges aus HGs Sonntagsbriefen: seinen Kampf um drei neue Kloschüsseln mit dem Heeres-Unterkunftsamt, daß er einen schwäbischen Zimmermann mit Urlaubsscheinen besticht, damit der ihm ein Waschhaus und die Garage für 15 Autos baut, daß er gern Radieschen-Samen geschickt haben möchte und Kunsthonig die gleiche Wirkung hat wie Rizinus-Öl. HG bekommt Mitarbeiter »mit mächtig vornehmen Namen – Baron Kleist von Budberg und Baron Stackelberg-Livenhof, Balten natürlich, die wissen deshalb alles besser. Gestern kam einer, der heißt Baron Mengden von Altenwoga, ist aber trotzdem ganz nett.« HG war fünf Stunden mit dem Auto unterwegs, um einen neuen Offizier im Generalstab »einer nördlichen Armee« vorzustellen, der dortige Major aber konnte ihn wegen »Arbeitsüberlastung« nicht empfangen. HG sei daraufhin wütend in dessen Büro eingedrungen und habe den Mann beim Sortieren von Zigarettenbildchen vorgefunden. So was schreibt einer, der aus diesem »Affenland« nicht schreiben kann, was wirklich los ist.
HG träumt auch: »Ich möchte mal wieder: an einem schönen Sommer-Sonntagmorgen früh um 6 Uhr mit meiner Frau und meinem Vater die Pferde besteigen, einen Pfundsritt bis zur Lessinghöhe machen, dort ein Glas Milch trinken, während die Pferde sich am morschen Holzstakett scheuern – wieder nach Hause kommen, mich zusammen mit meinen kleinsten Kindern rasieren und baden, Spiegeleier und Röstebrot frühstücken, DAZ lesen und gerade noch rechtzeitig mit meinen großen Kindern in die Kirche gehen, nach der Kirche aus dem Postfach 42 die Geschäftspost holen und eben mal mit ihr ins Kontor gucken, bis Else anruft ›Kommst du pünktlich zum Mittagessen?‹ und dann schnellen frohen Schrittes hutschwenkenderweise nach Hause eilen – nach dem sonntäglichen Essen (›Schneidest du heute vor oder soll ich?‹) im Liegestuhl auf dem Balkon Sonne schlemmen, von Sabine oder Wibke zum Tee gerufen werden und mich dabei von Heidesand überraschen lassen, danach Briefmarken pusseln, während Frau und Kinder Exlibris einkleben – nach dem Abendessen einen friedlichen kleinen Gang mit meiner Frau durch den
Weitere Kostenlose Bücher