Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Temperaturen bis minus 37 Grad, er erkundigt sich bei der Reichsfrauen-Schülerin Ursula, ob »Dauerwurst und Dosenfleisch Schaden nehmen, wenn sie eingefroren sind«. Die Sonntagsbriefe sind ab jetzt wieder da, und die Familie liest, wie »in diesem Lauselande die Kälte bezwungen wird. Autos sind morgens grundsätzlich eingefroren, die Männer bocken sie auf, entzünden ein offenes Holzfeuer unter dem Benzinmotor (!) und dann laufen sie wieder. Es wird mir versichert, noch nicht ein Wagen sei in die Luft geflogen. Die Motoren den ganzen Tag laufen zu lassen, damit sie warm bleiben, scheidet wegen Benzinmangels aus, also gibt es diese Feuer-Prozedur manchmal mehrfach am Tag.«
HGs Beschreibung dessen, was er tut, bleibt kryptisch. Er ist Leiter des Abwehrkommandos III, das in der riesigen Ausdehnung des Heeresgruppenbereichs überall mit Aufklärungstrupps und Agentenkolonnen den Gegner hinter und vor der Front im Visier hat. Die unorthodoxen Methoden des AK III finden wachsende Anerkennung in den Armeen und untermauern seine Unentbehrlichkeit. Wie Kurt damals in Grodno zieht HG Halberstädter Spezis in seinen Bereich nach, bald sitzen wieder die Bridgespieler vom Bismarckplatz zusammen. Ihr Geschäft ist die Partisanenbekämpfung – »diese Leute hinter der Front sind lebensgefährlich und sie vermehren sich wie die Küchenschaben!« HGs Leute versuchen sie zu fangen, sie zu unterwandern, ihre Kommandozentralen auszuheben, in HGs Dienststelle werden sie verhört, wenn man sie lebend kriegt.
Sein Job umfaßt auch die Vernehmung von kriegsgefangenen Offizieren und Überläufern, aus deren Aussagen, neben den Berichten der eigenen Agenten, er ein Bild gewinnt über die Zustände beim Gegner. Daher hat er, denke ich, die »mehrfach belegte Information, daß im belagerten und ausgehungerten Leningrad die Menschen sich gegenseitig auffressen«. HG schreibt das kommentarlos, zwei Absätze später ist zu lesen, daß die »Kriegsgefangenen aus dem Lager, die hier auf meiner Baustelle arbeiten, sich darum reißen, hierher zu kommen, weil sie von uns verpflegt werden«. Er und seine Mitarbeiter arbeiten bis zum Umfallen. Sie stehen unter Druck, die Gefangenen müssen möglichst sofort verhört werden für den Fall, daß dabei gewonnene Erkenntnisse akut wichtig sind für die eigene Truppe. »Meine Funker sitzen Tag und Nacht an der Taste, das Schreiben sollte durch Führerbefehl verboten werden«, stöhnt er, denn wenn er auch nicht alle Berichte selbst verfaßt, die Texte müssen über HGs Tisch.
Es bekommt ihm nicht. Else ist entsetzt, als HG zu Kurts 70. Geburtstag am 22. April 1942 kurz nach Hause kommt. Er hat 20 Pfund abgenommen, irgendeine Nierengeschichte, er ist »sehr elend«. Auch Kurt geht es nicht gut. Seine alte Amöbenruhr macht ihm erneut zu schaffen, außerdem krankt seine Psyche, »es ist nicht seine Zeit«, schreibt Gertrud in ihr Tagebuch. Sie selbst hat sich 1938 kurz nach meiner Geburt den Oberschenkelhals gebrochen – deshalb heiße ich mit zweitem Namen Gertrud, das hat ihr Freude gemacht. Seitdem geht sie am Stock. Beide sind bedrückt, daß HG an die Ostfront versetzt ist, »er hätte es doch nicht nötig gehabt, sich wegzumelden«. Else versucht, ihnen klarzumachen, daß es um Deutschland gehe und jeder Opfer bringen müsse, den Schwiegereltern aber sind die drei Hurras längst vergangen. Gertrud im Tagebuch: »Hans Georg hätte sich retten können. Dieser Krieg ist ein anderer Krieg.« Ist er nicht, Großmutter. Er ist die apokalyptische Fortsetzung eures Krieges.
Kurts 70. Geburtstag wird trotzdem ein schönes Fest, fast wie in alten Zeiten. Alle vier Kinder und die dazugehörigen Schwiegerkinder sind da, Enkel jede Menge, früh morgens wird vor Kurts und Gertruds Schlafzimmertür wieder vielstimmig »Es tagt der Sonne Morgenstrahl« gesungen, bald strömen die Gratulanten, der Familienverband in starker Formation, die Geschäftspartner, die Stadt, die »Gefolgschaft«. Natürlich gibt es eine Aufführung, sie besingt den vielfachen Kurt – den Zauberer, den Bildhauer, den Kürassier, den Kaufmann, den Archivar, den Großvater. Ich darf auch schon mein Verslein sagen. Alle Instrumente sind im Einsatz, in der großen Diele prasselt ein Feuer im Kamin: »Warmer Herd – Harm er wehrt«. Gertrud glücklich ins Tagebuch: »Wir haben den Krieg tatsächlich vergessen.«
HG fährt nach ein paar Tagen zurück nach Rußland, nicht gern, die Firma macht ihm Sorgen, Kurt ist den Anforderungen des
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