Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
heiß? Ich weiß es nicht und werde das nie erfahren. Ich habe Else nicht fragen können. Bis zu ihrem Tod wußte ich nicht, was sie aufbewahrt hatte und was nicht. Sie wollte nie, daß ich die schweren Schubladen ihres Empire-Schreibtisches aufzog, wo ihre Papiere lagen. Ich hatte ihre Privatsphäre zu respektieren.
Fünf auf einen Streich
Z WÖLF
A LS HG NACH R USSLAND KOMMT , ist Bernhard schon passiert. Bernhard Klamroth ist HGs Vetter zweiten Grades, Sohn jenes Bankiers Walter Klamroth aus Berlin-Grunewald, dessen Kneifer mich nach dem Krieg so fasziniert hatte – wann fällt der endlich mal runter!? In anderen Familien gehen Vettern zweiten Grades vermutlich per Sie miteinander um, bei den Klamroths ist das eng verwandt. Nicht so eng, als daß Bernhard, Jahrgang 1910, sich nicht Hals über Kopf hätte verlieben können in das Küken Ursula, HGs und Elses zweite Tochter, Jahrgang 1924 – das funkt Anfang Juni 1941, zu der Zeit ist Ursula 16.
Sie ist pummelig, hat den Mund voller Zahnspangen, nichts, wirklich gar nichts deutet darauf hin, daß sie einmal zu den schönsten Frauen gehören sollte, die mir begegnet sind. Ihre Augen allerdings, riesige dunkelblaue Augen, müssen damals schon so gewesen sein, daß man nicht weggucken konnte. Blind wie ein Huhn war sie, wie wir alle, ich habe einen Vertrag gefunden zwischen ihr und Else, der ihr 30 Mark einbringen sollte Ende 1938, wenn sie bis dahin ihre Brille nur in der Schule trüge. Was für ein Quatsch, das Kind wird blauäugig im Nebel herumgetappt sein – als ob man kurzsichtige Augen trainieren könnte wie Bauchmuskeln!
Bernhard ist 30, als er und Ursula sich über den Weg laufen – die kannten sich natürlich, so wie in dieser weitläufigen Familie jeder jeden kennt. Bernhard ist für ein paar Tage in Halberstadt, und es entwickelt sich – Unsinn! Nichts entwickelt sich. Das ist ein Blitzschlag aus heiterem Himmel, der Ur-Knall, der alles ändert. Bernhard, der Karriere-Offizier, eingetreten noch in die Reichswehr als 20jähriger 1930, inzwischen Major im Generalstab der 4. Armee, blendend aussehend in seinen »roten Hosen«, Polen-Feldzug, Frankreich-Feldzug, eine Kriegsauszeichnung nach der anderen, schwärmerisch geliebt von den Offizieren seiner 10. Panzer-Division – der und das dusselige, schusselige, mit soviel Jungtier-Flaum noch behaftete Kind. Ich fasse es bis heute nicht.
Niemand faßt es. HG im fernen Dänemark an Else (so etwas hat sie aufbewahrt!): »Du weißt, wie sehr ich Ursula liebe. Aber sag’ mir doch – was will Bernhard denn mit der? Die ist doch noch nicht trocken hinter den Ohren, und das ist ihr gutes Recht. Ich möchte nicht darüber nachdenken, ob hier Alt-Herren-Allüren im Spiel sein könnten.« Bernhard ist im Rußlandfeldzug in vorderster Front, trotzdem schreibt er fast täglich an Ursula, Briefe von großer Zärtlichkeit und voller Zukunftsträume. Den Krieg in Schlamm und Strapazen spart er fast völlig aus, er schafft sich in seinem Stabsquartier eine Nische, in der nur sie beide Platz haben. Am 22. Juni 1942 klingt das so: »Meine Geliebte, heute vor einem Jahr begann der Feldzug im Osten, und dieses Jahr hat mich verändert. Ich habe Dich kennengelernt, und das hat mir die Kraft gegeben, das zu überstehen, was hier manchem über die Kräfte geht. Ich bin unbeschädigt in meinem Innern, und das verdanke ich Dir.«
Bernhard hat in der Zwischenzeit ihr gemeinsames Leben geregelt. Im November 1941 kommt er für eine Stippvisite von anderthalb Tagen nach Berlin, Ursula entwischt Gertruds großmütterlicher Aufsicht in Halberstadt – Else ist verreist –, und auf einer Parkbank gegenüber seinem Elternhaus in der Paulsborner Straße bittet Bernhard Ursula, ihn zu heiraten. Da haben die beiden sich insgesamt viereinhalb Tage gesehen! Bernhard schreibt sofort hinterher einen Entschuldigungsbrief an die empörte Gertrud. »Um Dich nicht zu hintergehen, wäre ich natürlich lieber nach Halberstadt gekommen, aber ich hatte wirklich nur 36 Stunden! Verzeih mir bitte!« Mit gleicher Feldpost geht ein Brief an HG und Else raus: »So möchte ich Euch um die Erlaubnis bitten, daß in Zukunft Ursula und ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit (die meist unvorhergesehen, plötzlich und sehr kurz sein wird) zusammentreffen dürfen. Wenn auch alle weiter gehenden Pläne in der augenblicklichen Situation stark verfrüht erscheinen, möchte ich Euch um Euer Einverständnis bitten, daß Ursula und ich uns mit Eurem
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