Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
durchgedrungen. Jetzt hilft ihm Gertruds Stolz über Operation und Rekonvaleszenz hinweg. Im übrigen betrachtet er mit Sorge die fortschreitende Mangelwirtschaft. Die britische Seeblockade greift nahezu perfekt und soll wie im Burenkrieg die Zivilbevölkerung in Deutschland aushungern. Brot und viele andere Lebensmittel sind rationiert, es gibt keine Schokolade mehr und keine Seife, und Kurt, der schließlich selbst mit Injurien gegen »die früheren Vettern von jenseits des Kanals« nicht geizt, ist verblüfft über »das Ausmaß an Erbitterung, das überall zu spüren ist«.
Sein Ältester, HG, mittlerweile 16, erschreckt ihn, als er ihm mit aller Wut und allem Pathos den »Haßgesang gegen England« von Ernst Lissauer vorträgt. Das war ein Berliner Schriftsteller, den bis dahin kaum jemand wahrgenommen hatte und heute zu Recht keiner mehr kennt. Sein »Haßgesang« war damals in aller Munde. Letzte Strophe:
Dich werden wir hassen mit langem Haß
Wir werden nicht lassen von unserm Haß,
Haß zu Wasser und Haß zu Land
Haß der Hämmer und Haß der Kronen,
Drosselnder Haß von siebzig Millionen,
Sie lieben vereint, sie hassen vereint,
sie haben alle nur einen Feind:
ENGLAND
Von diesem Machwerk hat sich Lissauer übrigens später in aller Form distanziert – nach dem Krieg.
HG scharrt mit den Füßen. Die Abiturienten-Jahrgänge im Halberstädter Domgymnasium haben sich nahezu komplett freiwillig zur Truppe gemeldet. Ständig stolzieren junge Männer, Schulfreunde, in Uniform durch die Stadt. Dazu kommt, daß der Direktor der Schule gewechselt hat. Während der frühere den jungen HG wohlwollend begleitet hatte, kennt sich der Neue in der Hierarchie der Stadt nicht aus und besteht buchhalterisch auf Latein und Mathematik. Soll HG sich damit beschäftigen, wo die Welt brennt und er sich für das Vaterland in den Kampf werfen könnte? Soll er, spricht Vater Kurt: »Du wirst Deine Pflicht tun da, wo es gefordert ist. Das Land braucht gut ausgebildete Männer!«
Es ist nicht überliefert, ob HG mault. Aber mit Sicherheit kränkt es ihn, daß der Vater ihn mit knapp 17 Jahren für zu jung und vor allem für nicht fit genug hält, Soldat zu werden. Er vermutet, wahrscheinlich zu Recht, daß die Eltern in dieser Hinsicht mit ihrem langjährigen Hausarzt unter einer Decke stecken, und so trainiert HG heimlich, was das Zeug hält: Schwimmen, Fußmärsche, Radfahren. Kurt aber fährt zurück nach Rußland »mit dem Trost«, schreibt er an Gertrud, »den Jungen zuhause behütet und an Deiner Seite zu wissen«.
Im April 1916 wird Kurt versetzt nach Grodno an der Memel. Dorthin ist der Halberstädter Bürgermeister Hans Weissenborn als Stadthauptmann kommandiert worden, und Kurt, sein Stadtverordneten-Vorsteher, soll ihm helfen, eine deutsche Verwaltung in der vom Krieg gebeutelten Stadt aufzubauen. Grodno heißt heute Hrodna und liegt in Weißrußland unmittelbar östlich der Grenze zu Polen und Litauen. Damals gehörte es zum zaristischen Rußland und war gerade von den Deutschen eingenommen worden. Daß dort eine deutsche Verwaltung eingerichtet werden sollte, hatte etwas damit zu tun, daß es in diesem Krieg natürlich nicht nur um Landesverteidigung ging. Da kursierten die verwegensten Pläne um weitläufige Gebietsgewinne – ganz Belgien zum Beispiel sollte es sein und große Teile im Westen Rußlands, im Klartext: wieder mal Polen. Hitlers Pläne 20 Jahre später waren so neu also nicht.
Ob auch Kurt solchen Großmachtträumen nachhängt, sagt er nicht. Zunächst mal versinken er und sein Bürgermeister in einem Faß ohne Boden. Die abziehenden Russen haben alle Akten und die Gemeindekasse mitgenommen – hier ist eine Stadt, ein entzückendes Städtchen offenbar, an beiden Ufern der Memel, mit 24 460 Einwohnern, die in einem verwaltungstechnischen Vakuum herumtrudeln, Lebensmittel ergaunern müssen, ihre Kinder nicht in Schulen schicken, ihre Patienten nicht ins Krankenhaus bringen können. Zugang zu Strom und Wasser gibt es nur noch nach Mauscheleien mit den Leuten, die an der Quelle sitzen.
31 Deutsche, 21 Letten, 113 Litauer, 67 Esten, 465 Weißrussen, 570 »andere« Russen, 7 609 Polen, 15 583 Juden und 1 Grieche (den hätte ich gern gekannt!): Das macht zusammen tatsächlich 24 460 Menschen – ach, Kurt! Dem Halberstädter Kaufmann entwischt kein polnisches Kind und kein betagter Chassid. All diese Leute haben sich seit der Eroberung durch die Deutschen mit großem Geschick den Anordnungen der
Weitere Kostenlose Bücher