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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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Helmen.«
    Kurt geht das schon an die Nieren. Aber eigentlich findet er es gerecht, daß besetzte Gebiete für Deutschland bluten sollen, »leidet doch Deutschland selbst Mangel aufgrund der Aushungerungsversuche der Engländer«. Das hört er von seiner Frau Gertrud, die täglich schreibt, und die Post dauert zwischen Halberstadt und dem so endlos entfernten Grodno selbst in diesen wirren Zeiten nur zwei Tage.
    Zu Hause gibt es inzwischen vier Ziegen auf dem weitläufigen Gartenrasen, und Gertrud verteilt Milch an die Mütter von Neugeborenen in der Nachbarschaft. Hühner sind ins Haus gekommen und ein paar Kaninchen, die HG versorgt und auch »ohne Hemmungen« schlachten will. Gertrud kämpft gegen Raupen im Feldgarten – »die haben genausoviel Hunger wie wir« –, und sie kann nicht einmachen, weil kein Zucker zu bekommen ist. Die Fleischration ist laut Lebensmittelkarten auf ein Pfund pro Woche pro Person herabgesetzt worden, manchmal auch nur ein halbes, ohne Knochen, und keineswegs immer verfügbar. Die große Wäsche machen Gertrud und ihre immer noch präsenten Haushaltshilfen ohne Seife – »die Sonne wird es schon bleichen«. Wir sind im Frühsommer 1916.
    Kurt begreift schnell, daß er ohne »den eingeführten jüdischen Handel« nichts werden kann. Kollegen-Offiziere in benachbarten Landkreisen versuchen das und scheitern kläglich. Sie »mißtrauen den Juden zutiefst und versuchen, die Waren mittels ihrer Polizeigewalt und zu staatlich festgesetzten Preisen beizutreiben«. Also sind dort plötzlich weder Eier noch Butter mehr auf dem Markt. Kurt hingegen macht mit den jüdischen Händlern – Kaufleute unter sich – einen Deal aus. Er importiert aus Deutschland Waren, die deutsche Hersteller dringend loswerden wollen und die der Grodnoer Markt und das Hinterland aufsaugen wie lang entbehrte Luft: »billige Taschenmesser, Kämme, Glashalsketten, Heiligenbilder, Spielkarten, Taschenspiegel, billige Schmucksachen und ähnliches«. Das klingt fatal nach der Exportwirtschaft in die neuen afrikanischen Kolonien. Offensichtlich hat es funktioniert.
    Auf die Preise schlägt Kurt zehn Prozent für die Stadtkasse auf, er bekommt durch diesen Handel seine von »Oberost« geforderten Kriegsrohstoffe und Lebensmittel, und beide Seiten sind zufrieden. Die Grodnoer Juden, ohne deren Hilfe Kurt seinen Schnitt nicht machen könnte, sind ihm dennoch unheimlich, und er mag sie nicht. Auch nicht die Vertreter von deren Oberschicht, über die er schreibt: »Diese Ostjuden haben durchaus kein Gefühl für Anstand im geschäftlichen Verkehr. Sie halten für Geschäftsgewandtheit und kaufmännische Klugheit, was wir für gemeine Gaunerei halten. Deshalb ist für uns jeder Verkehr mit ihnen unmöglich.«
    An anderer Stelle notiert Kurt: »Weissenborn war sehr erstaunt, als er eines Tages dazu kam, wie ich einem jüdischen Kaufmann, der mich gar zu arg beschuppen wollte, mit meiner Reitpeitsche die Quittung für sein Betragen auf den Rücken schrieb. Das Verfahren erschien dem Herrn Stadthauptmann doch etwas bedenklich.« Aber der Bürgermeister ist lernfähig. Kurt: »Wenige Tage darauf sah ich ihn das gleiche Verfahren gegenüber einem Fischhändler anwenden, der die arme Bevölkerung entgegen einer kurz vorher erlassenen Verordnung schamlos ausbeutete.«
    Kurt hatte diese Auftritte »nach russischer Gutsherren-Art« von polnischen Geschäftspartnern empfohlen bekommen. Zu Hause in Halberstadt wäre ihm nie eingefallen, »daß der Jude solche Behandlung für ganz gerecht empfindet und daß sie besser wirkt als Geldstrafen, die ihm für die Übertretung von Verordnungen auferlegt werden. So war denn auch der von mir gezüchtigte Händler schon anderen Tages wieder auf meinem Amtszimmer mit neuen Offerten. Diese uns so fremde Art des Juden macht ihn uns so unsympathisch.«
    »Der« Jude – der Singularis für eine Gattung. Wie »der Regenwurm«. Die Abgrenzung gegen Unbekanntes geht Hand in Hand mit Hochmut – »was kann aus diesem Lande werden, wenn erst deutsche Kultur den Boden erschließt«. Was Kurt kränkt, ist die fehlende Bereitschaft, die »Überlegenheit« der deutschen Kultur als Sehnsucht zu empfinden. Er kapiert nicht die Autarkie dieser jüdischen Lebenswelt, die sich arrangiert mit den vielfältigen Zwängen äußerer Einflußnahmen, aber dieses Außen nicht eindringen, geschweige denn zum Maßstab der eigenen jüdischen Identität werden läßt.
    Kurt bewundert das »innige jüdische Familienleben«

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