Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
und die »streng sittliche Lebensführung der jüdischen Frauen und Mädchen«. Auch »die jüdische Wohltätigkeit« imponiert ihm – er erlebt die Geschlossenheit einer ostjüdischen Kommune, die ihre jeweilige Außenwelt benutzt fürs eigene Überleben. Auch er und die gesamte deutsche Verwaltung, so wie vorher die russische und davor die polnische, werden benutzt ohne Verbrüderung. Es geht um Vorteile, Abwendung von Gefahr, Existenzsicherung in einem in der Regel feindlichen Umfeld. Noch jede jüdische Gruppierung ist irgendwann gescheitert, wenn sie sich auf das Wohlwollen der Umwelt verlassen hat. Buhlen schützt nicht – vor russischen Pogromen nicht und nicht vor Hitlers Vernichtungslagern.
Kurt versteht gar nichts. Woher denn auch – in seiner Generation ist in Deutschland Assimilation angesagt. Wilhelm II. hatte seine »Kaiserjuden« wie den Industriellen Walther Rathenau, den Reeder Albert Ballin und den Bankier Max Warburg. Er schätzte deren wirtschaftliche Kompetenz. Konservativchristlich geprägt wie er war, blieb er jedoch zeit seines Lebens Antisemit. Ungetaufte Juden in den wilhelminischen Jahrzehnten waren trotz aller formalen Gleichberechtigung Bürger zweiter Klasse. In der Oberschicht waren sie allenfalls geduldet, der Zugang wurde ihnen, ein Akt des Großmuts, gewährt – übrigens nicht beim Reserveoffizierkorps, in den »richtigen« Studentenverbindungen oder in der höheren Verwaltung, den wichtigsten Eingangsschleusen zu gesellschaftlicher Akzeptanz. Das Gefälle war klar zwischen denen, die sich bemühten – den Juden – und denen, die zuließen. Oder auch nicht.
In Grodno 1916 gibt es dieses Gefälle nicht. Hier stehen sich zwei unterschiedliche Formationen in Augenhöhe gegenüber, Reitgerten mal außen vor. Beide brauchen einander. Beide machen Deals auf Gegenseitigkeit. Die jüdischen Händler tricksen die deutsche Besatzungsmacht aus, wo immer sie können, und Kurt ist nicht gewillt, sich in puncto Schlitzohrigkeit von wem auch immer etwas vormachen zu lassen. Er hat Aufträge: Butter und Eier für Deutschland, Kriegsrohstoffe, Kopfsteuer. Die Bevölkerung in Grodno hungert, und die Stadtkasse ist labil. Jetzt braucht er Gold.
Die Goldreserven der Reichsbank bedürfen dringend der Auffrischung, und überall im Land werden die Menschen aufgerufen, sich – freiwillig und gegen Bezahlung – von ihren Beständen zu trennen. Faksimilierte Handschriften tauchen als Kleinanzeigen in den Zeitungen auf – »Wer Gold behält, verkennt die Stunde – Ludendorff« und »Unser Gold gehört im Kriege dem Vaterlande – von Hindenburg«. Die propagierte Mode, von nun an Eisenschmuck zu tragen, hat sich allerdings nicht wirklich durchgesetzt. Doch die Damen erscheinen nur noch mit ihren Trauringen in der Öffentlichkeit – anderer Schmuck ist politisch nicht mehr korrekt.
Kurt in Grodno erntet großäugiges Erstaunen, als er seine Handelspartner um Gold angeht. »Das haben alles schon die Russen eingesammelt«, soll er glauben und sinnt auf Abhilfe. Er läßt sich von »Oberost« das Branntwein-Monopol für Stadt und Landkreis übertragen, und als er am ersten Tag die langen Schlangen vor der Verkaufsstelle sieht, »schloß ich den Laden, heftete einen Zettel an die Tür, daß die geringen Bestände, die noch zu verkaufen seien, ab nächsten Tag nur noch flaschenweise und gegen die Umwechslung eines Goldstücks verkauft würden. Am Morgen darauf begann der Goldregen und wenig später konnte ich die ersten 20 000 Rubel in barem Goldgelde der Reichsbank zusenden.« Bei aller Schlitzohrigkeit bleibt Kurt korrekt. Die Kunden, meist jene Händler, die unlängst so gar nichts mehr hatten, bekommen den regulären Umtauschsatz für ihr Gold und zahlen geringfügig weniger für den Schnaps, als von »Oberost« festgelegt: »Die sollen ja wiederkommen mit neuem Gold.«
Für Gertrud in Halberstadt liegen die Dinge nicht ganz so einfach. Sie ist im Juni 1916 in den Ehren-Ausschuß der Goldsammlung berufen worden und findet es unsinnig, daß Trauringe ausgenommen sind, »um dem Ausland unsere Not nicht zu deutlich zu machen«. Es müsse statt dessen »Ehrenpflicht« werden, schmale silberne Ringe zu tragen, dann hätte man von Millionen Eheringen den reinen Goldwert, ohne sich auch noch mit dem Kunstwert anderer Schmuckstücke herumschlagen zu müssen, die außerdem in der Regel mit so vielen persönlichen Erinnerungen behaftet seien.
Niemand fragt sie, also kämpft Gertrud jetzt
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