Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
neuen Militärhoheit widersetzt. Ein Chaos. Aber ein gut dokumentiertes – Kurt schreibt alles auf, und mir wird schwindelig, weil er doch von Juden – Ostjuden auch noch – wirklich keine Ahnung hat.
In Halberstadt gab es eine bedeutende jüdische Gemeinde. Ihre Honoratioren waren mindestens so wohlhabend wie die Klamroths, ihre internationalen Geschäftsverbindungen denen der Klamroths weit überlegen. Juden waren Mitglieder im Stadtrat wie Kurts Vater Gustav und wie Kurt selbst, einflußreiche Mäzene und Wohltäter der Stadt. Im privaten Leben von Kurts Familie kamen sie nicht vor. Ich habe in den Gäste- und Gesellschaftsbüchern des Hauses Klamroth nicht einen von ihnen gefunden, nicht im »Spielbuch« des Tennishauses oder auf den Teilnehmerlisten der Harzritte.
Nun gut: Die Halberstädter Juden, orthodox wie sie waren, sind wahrscheinlich weder geritten, noch spielten sie Tennis. Sie konnten nicht von Klamroths nicht koscherem Geschirr essen oder von deren nicht koscherem Wein trinken. Doch es gibt auch sonst nicht den kleinsten Hinweis darauf, daß sie miteinander umgegangen wären – nicht bei Konzerten, Empfängen, in der Handelskammer oder in Gemeindeangelegenheiten, und das in einer so kleinen Stadt, wo die oberen Zehntausend allenfalls hundert waren, Juden wie Nichtjuden. Die Abgrenzung aber, so denke ich, war durchaus wechselseitig.
Kurt und sein Bürgermeister ertrinken in Arbeit, also holen sie sich von überallher aus der Armee Halberstädter Spezis nach Grodno. Kurt läßt seinen jungen Buchhalter Willy Lodahl aus der Firma I. G. Klamroth irgendwo im Schützengraben auf dem Balkan auftreiben, und schon Anfang Juni ist der da, um fortan die Stadtkasse auf Vordermann zu bringen. Der Chefredakteur der Grodnoer Zeitung kommt aus Halberstadt. Ins Grodnoer Krankenhaus wird eine resolute Oberschwester aus dem Halberstädter Cecilienstift verpflichtet, die kein Wort der in Grodno heimischen Sprachen spricht, aber den Betrieb in Windeseile nach deutscher Diakonissenart organisiert. Für die Wasserversorgung rückt der Landsturmmann Sinning in Grodno ein, der in Friedenszeiten Stadtbaurat in Halberstadt war, und als Sachwalter der Zivilgerichtsbarkeit erscheint ein tüchtiger Amtsgerichtsrat aus Quedlinburg.
Sie führen einen Zweifrontenkrieg gegen die anarchischen Zustände in der Stadt und gegen die deutsche Militärverwaltung. Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, Oberbefehlshaber Ost, und sein Generalstabschef Erich Ludendorff hatten unmißverständlichen Befehl gegeben. Hindenburg: »Die rücksichtslose Ausnutzung des Landes für eine geregelte Verpflegung von Heer, Bevölkerung und Deutschland ist die vornehmste Aufgabe der Verwaltung. Wenn gedarbt werden muß, darbt zuerst die Bevölkerung des besetzten Gebietes. Ich erwarte energisches Erfassen der Vorräte durch die dazu berufenen Mitglieder der Verwaltung unter Zurückstellung lokaler Interessen vor den Lebensinteressen des deutschen Volkes.«
Während Kurt pro Woche 70 000 Eier und faßweise Butter – regulär bezahlt – nach Deutschland schickt, versucht er, den Spagat zwischen Anordnungen der Militärhoheit und Nöten der Bevölkerung mittels öffentlicher Suppenküchen zu bewältigen. Für deren Organisation spannt er jüdische Kaufleute ein, die sich aus der Zusammenarbeit mit der deutschen Zivilverwaltung einen langfristigen Vorteil versprechen. Denn natürlich gibt es den streng verbotenen Schwarzhandel und inoffizielle Bezugsquellen für alles. Also entlohnt Kurt die Händler samt deren kochende Ehefrauen – Kurt an Gertrud: »Man lernt hier levantinische Sitten« – mit einem nur schmalen Obolus aus der Stadtkasse, dafür hat er angeblich keine Ahnung, woher die Zutaten für die Suppenküche und die sonst kursierenden Schwarzwaren kommen. Die Händler maulen, es müsse zu viel Fleisch in den Topf. Zitat Kurt – »Nu, woas kenn mer machen, woas kenn mer tun?!«
Es reicht allerdings nirgendwo. Kurt bekommt verzweifelte Briefe, anonym: »Mir tut nur leid das Kind. Es weint und schreit: Mama, Mama, gib mir Brot! Ach, woher will ich das Brot kriegen? Wenn gibt’s noch irgendwo, so kostet 60 Pfennig der Pfund. Und das Geld? Woher sollen wir kriegen? Und dabei noch verlangt man den ›Kopfsteuer‹, als ob wir seien gar keine Leute, sondern Vieh. Ja, nur die Deutschen sind die Leute, restlichen Bevölkerung der ganzen Europa ist das Vieh! Das ist den Ihren Helmen entsprechend, den grauen, grausamen, mittelalterlichen
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