Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
eilig hat. Es geht ihr darum, einer möglichen Einberufung zuvorzukommen, und die steht für den Jahrgang 1898 bald an, so hoch, wie die Verluste an der Front allenthalben sind. Eine Einberufung könnte bedeuten, daß HG – Gott behüte – zur Infanterie muß oder zu den Pionieren, »brave« Leute, gewiß. Dem Vaterland dienen, natürlich, aber doch nicht überall. HG hätte möglicherweise nicht von vornherein Fahnenjunker, sprich Offiziersanwärter werden können. Nicht nur ist der »Junker« ein Muß für einen Klamroth aus Halberstadt, Pferde müssen es sein, Kavallerie bitteschön – Kürassiere, Dragoner, Husaren, Ulanen. Das »richtige« Regiment. Krieg her oder hin, das hier ist eine Frage des gesellschaftlichen Status. Hier werden die Weichen für die Zukunft gestellt. Ein Rittmeister wie Vater Kurt ist irgendwie feiner als ein Hauptmann – Pferde sind adlig. Wir sind in Preußen.
Das Procedere geht so: Erst muß so ein junger Mann felddiensttauglich sein, dann braucht er ein Regiment, das den Freiwilligen aufnimmt. Wenn er das hat, und nur dann, kann er sein Notabitur machen, denn die Schule steht dem vaterländischen Dienst nicht im Wege. Selbstverständlich nicht. Das Regiment nimmt den Möchtegern-Junker nur, wenn er sein Abitur wirklich hat – also gibt es gewisse Zwänge. Für den Abiturienten und für die Schule. Und es gibt Schulen, das Domgymnasium zum Beispiel, dessen neuer Direktor das Abitur nicht durchs Vaterland korrumpieren lassen will. »Sozi« nennen sie ihn hinter vorgehaltener Hand in Halberstadt. Ist er gar nicht, er gehört wohl eher zu den »Demokraten«, aber HG hat seine liebe Not mit ihm.
Doch erst mal sind da seine Eltern. Vater Kurt hat den Krieg – in der Etappe, aber immerhin – in finsterer Grausamkeit erlebt, und er will bei allem Patriotismus seinen Sohn da raushalten. Bitte nicht: »Siegen tut not, leben nicht«, wie der Vetter beim »Heldentod« seines Sohnes an dessen Mutter telegraphiert hatte. Gertrud in Halberstadt tickt da anders, und sie guckt durch HGs sehnsüchtige Augen. In homöopathischen Dosen bringt sie Kurt in Grodno die Dringlichkeit einer Entscheidung bei: »In Baden haben sie den Jahrgang 98 einberufen« oder »In der Schule wird Hans Georg immer wieder gefragt nach dem Notexamen« oder » Jeder erwartet doch, daß ein Jüngling, sobald er irgend kann, sich jetzt dem Vaterlande zur Verfügung stellt. Und daß man ihn möglichst nicht Infanterist werden lassen will, kann wohl keiner uns Eltern verdenken«. Und dazwischen immer wieder: »Macht Deine Frau es richtig?« oder »Wenn Du doch hier wärst und die Dinge entscheiden könntest«. Am besten: »Mütter taugen nicht für große Jungen. Ich kann ihn nicht zurückhalten, da braucht es den Vater.« Die hat was, die Frau Großmutter.
Und dann ist da der 11. Juli 1916: »Mein geliebter Mann! Gestern kam Hans Georg ganz selig nach Hause: ›Paul Springorum‹ – das ist der Hausarzt – ›hat mich felddiensttauglich befunden.‹ Heimlich hatte er sich angemeldet und war heimlich hingegangen. Nun wollte Paul noch mal mit mir sprechen, ich will nachmittags zu ihm gehen. Lieber Alter, ich habe nicht anders handeln können. Mir sagte Hans Georg: ›Mutter, Vater sieht das aus der Ferne anders – es geht doch um meine Ehre‹. Den Ausschlag gab wohl besonders, daß der schmale, schwächliche Kühne aus seiner Klasse jetzt ein Regiment gefunden hat. Ich schrieb Dir ja, daß ich Paul gesagt hatte, wie Du darüber dächtest und daß er nach Möglichkeit den Jungen zurückhalten möchte, wenn er noch irgendeine Schwäche an ihm fände. Wenn Paul selbst ihm jetzt sagt, Du bist gesund und militärdiensttauglich, dann können wir auch fest überzeugt sein, daß es so ist.«
Und weiter: »Nun ist natürlich die Folge, daß er sich gleich nach den Ferien zum Examen melden möchte. Darüber, daß er noch Soldat werden muß, d. h. daß der Krieg länger dauert, als wir H.-G. bestenfalls hinhalten könnten, ist wohl leider kein Zweifel mehr. Dir wird nun das Schwerste sein, daß er nicht Kürassier werden kann« – die Halberstädter Kürassiere, Kurts Regiment, haben Aufnahme-Stop – »denn natürlich muß er zum Notexamen den Annahmeschein als Junker haben. Es sind aber in der Praxis doch viel mehr Regimenter noch bereit, Junker anzunehmen, als es in der Theorie immer heißt.«
Gertrud übernimmt das Kommando. Ihrem Mann in Grodno gegenüber ist sie aber ganz die kleine Frau: »Lieber Mann, es tut
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