Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
wachen, daß die Damen nicht ohne Begleitung unterwegs sind und sich nach Dienstschluß in ihren Unterkünften aufhalten. Kurt: »Es hatten sich sehr viele ungeeignete Mädchen beworben, die aus Abenteuer-Lust oder schlechteren Motiven versuchten, in die Etappe zu kommen. Daraufhin wurde disziplinarische Bestrafung und Rücksendung sittlich ungeeigneter Mädchen eingeführt.« Arbeiten sollen sie, aber Spaß ist nicht erlaubt, und in Magdeburg wird zudem akribisch aufgepaßt, daß Etappenhengste sich nicht ihre Freundinnen nachkommen lassen – Kurt gönnt rein gar nichts.
Gertrud ist inzwischen voll beschäftigt mit ihrem Feldgarten, den Ziegen und Kaninchen, jeder Menge Hühnern und seit neuestem mästet sie auch ein Schwein. Der Kutscher ist an der Front, der Hausmeister auch, die kriegswichtigen Angestellten in der Firma, die mal zupacken könnten, sind um die Hälfte reduziert. Sie hat neben den Hausmädchen nur noch einen alten rheumatischen Gärtner, und der Alltag ist bestimmt von Mangel, na gut: Mangel auf hohem Niveau. Gertrud klagt auch nicht, sie erzählt.
Sie bekommt keine Stärke mehr – »was mache ich mit Euren Hemden?« –, sie rebbelt alte Strümpfe auf, um Stopfgarn zu gewinnen –, »in einem Deiner Stiefel muß ein Nagel sein, das Loch ist immer an der gleichen Stelle«, schimpft sie mit HG. Sie will seine Aktentasche haben für Kurt junior, damit sie dessen Ranzen an einen Erstklässler verschenken kann – »man bekommt nirgendwo mehr Schulmappen«. Die zehnjährige Tochter Erika war im Sommer als »tapferes deutsches Mädel« wochenlang barfuß herumgelaufen, weil Schuhe so schwer zu bekommen sind. Im Haus läßt Gertrud Öfen setzen, nur drei für fast dreißig Räume, das ist nicht viel, wo die Halberstädter Winter – damals noch – knallkalt sind, wochenlang minus 10 Grad und drunter. Aber die Kohlezuteilung reicht nicht mehr für die Zentralheizung, und die kupfernen Dachrinnen werden durch Zinkrinnen ersetzt – Kupfer ist kriegswichtig.
HG trabt durch die ostpreußische Hauptstadt, um Kunsthonig aufzutreiben für die Halberstädter Weihnachtsbäckerei, er schickt gelegentlich ein bejubeltes Kommißbrot und ergattert auch mal Königsberger Marzipan, das seine Schwestern zu Hause andächtig mit Messer und Gabel essen. Für den Vater findet er tatsächlich ein Kistchen Zigarren – in Magdeburg oder Halberstadt werden sie inzwischen einzeln verkauft. Im übrigen bemüht er sich auf den Landgütern der Gegend an den Wochenenden um Jagd-Fortune und beglückt die Lieben daheim mit Hasen oder Schnepfen – wie gut, daß die Post immer noch so schnell ist.
Kurt in Magdeburg organisiert einen Fabrikküchen-Ausschuß, der jeden Mittag telefonisch für Klagen der Arbeiter über die Qualität des Werkskantinen-Essens greifbar ist und bei Bedarf an Ort und Stelle kontrolliert. Seit es diesen Ausschuß gibt, werden die Klagen weniger – entweder kochen die Kantinen-Köche besser oder aber, so vermutet Kurt, waren die Beschwerden Ergebnisse »von Hetzern, die Unruhe in der Arbeiterschaft schüren wollten«. Alles zerrt an den Nerven. Die Bevölkerung ist gereizt, weil sich die Stromsperren häufen und es nur noch Steckrüben-Marmelade zu kaufen gibt. Die Militärs reiben sich an den zivilen Beamten. Jeder hat jemanden an der Front, um den er bangt. Selbst in Kurts Kriegsamtstelle werden immer wieder Prüfungen wegen möglicher Felddiensttauglichkeit durchgeführt, besonders die Älteren zittern, daß es sie tatsächlich noch erwischen könnte. Da ist 1916 die Weihnachtsbotschaft Kaiser Wilhelms an die Kriegsgegner Balsam für wunde Seelen. Er bietet Frieden an und gibt, als das Angebot abgelehnt wird, der Bevölkerung immerhin das Gefühl, »an uns liegt es nicht«.
Dieses kaiserliche Friedensangebot war keineswegs unangefochten. In Deutschland ist ein erbitterter Streit entbrannt über die Kriegsziele: »Verständigungsfrieden« einerseits, »Siegfrieden« andererseits. Vor allem Sozialdemokraten und Zentrum wollen »einen Frieden der Verständigung und der dauernden Aussöhnung der Völker. Mit einem solchen Frieden sind erzwungene Gebietsabtretungen und politische, wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigungen unvereinbar.« Der Kaiser habe in seiner Thronrede zum Kriegsbeginn am 4. August 1914 gesagt: »Uns treibt nicht Eroberungssucht« – und so solle es bleiben. Konservative und National-Liberale dagegen, die völkischen »Alldeutschen« und viele hundert reaktionäre
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