Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
weiter als die im litauischen Tale hocken. Und so kannst Du ruhig annehmen, daß Kühlmann und die ihm Anweisungen geben, einen besseren Gesamtüberblick haben.« Er erklärt dem Sohn die prekäre Lage Deutschlands trotz früherer militärischer Erfolge und bekennt: »Noch hoffe ich auf einen einigermaßen günstigen Verständigungsfrieden.« Zum Schluß mahnt er den Naseweis: »Durchhalten ist in Deinem litauischen Nest da draußen leichter als hier in Deutschland.«
Das ist wohl wahr. An einem weiteren Etappen-Ort – Gut Dobuski, das ich auf keiner Karte gefunden habe – ist HG mit einem Leutnant und drei weiteren Unteroffizieren für 30 Soldaten zuständig, und auch hier keine »Banden« weit und breit. Dafür »wache ich gewöhnlich um acht Uhr auf, wenn Armutat meine Stiefel holt« – das ist sein »Putzer«, wohl so etwas wie ein Pferdepfleger, aber seine Funktion scheint die eines Burschen zu sein. Der Junge »knallt seine Hacken zusammen, flüstert ›Herr Junker befehlen?‹, schürt das Feuer im Ofen und bringt heißes Wasser. Dann stelle ich ein furchtbares Geplansche vor meinem von Armutat gebauten Waschtisch an, so daß die beiden Bauernmädchen von nebenan meinen Putzer schon ganz erstaunt gefragt haben, ob ich mich denn jeden Tag wüsche.«
Danach frühstückt der junge Herr – »Milch, Eier, Wurst und Brot – der Leutnant schläft noch. Von 10 bis 11 ist gewöhnlich Fußdienst, da habe ich jetzt einen Halbzug zugewiesen bekommen, mit dem ich ganz allein herummanövriere und mich im Kommandieren übe. Um halb zwölf essen wir zu Mittag, und zwar Feldküche, die großartig ist. Nach Tisch versinken der Leutnant und ich in die tiefen Polstersessel im Wohnzimmer (wo die herkommen, wissen die Götter!) und erwarten rauchend den Postreiter. Dann reite ich ein bißchen – es sind 20 Grad minus draußen – oder laufe Schneeschuh bis zum Tee um vier Uhr. Nachher wird geschrieben oder gelesen bis zum Abendbrot um sieben Uhr. Heute abend haben wir Karbonade mit Bratkartoffeln, gestern gab es Rührei. Getrunken wird wieder Milch. Um halb neun empfehle ich mich und gehe zu Bett, während der Leutnant noch bis tief in die Nacht liest.«
Das ist ein Drohnenleben verglichen mit dem wahrhaft mörderischen Dienst der Truppe im Westen oder dem Überlebenskampf der geschundenen Bevölkerung zu Hause. So sieht das auch HG. Zwar hat er zweimal in der Woche Nachtdienst und muß angezogen schlafen. Er reitet ab und an nächtlich auf Patrouille in andere Dörfer, wo sie Häuser und Ställe nach »Banden« durchsuchen und die Bewohner mit ihren Karabinern erschrecken. Gelegentlich gibt es unerwartet angesetzte Übungen, bei denen es darauf ankommt, in Windeseile marschbereit zu sein, aber eine sinnvolle Beschäftigung ist das alles nicht. HG hat sich seine Schulbücher schicken lassen und lernt wieder Englisch und Geschichte. Er studiert militärische Fachliteratur und liest mehrere Zeitungen, seit ihm Kurt geschrieben hat, seine unreifen politischen Ansichten entstünden aus Mangel an Information. Doch das reicht ihm nicht – er fühlt sich überflüssig.
Am 8. Februar 1918 schreibt HG an Kurt: »Ich fühle die Kraft in mir, etwas zu leisten. Im Westen erwirbt sich einer meiner Döberitzer Kameraden nach dem anderen das E.K.I, und ich bin zur Untätigkeit gezwungen. Ich glaube, Vater, ich halte das nicht mehr allzu lange aus. Meine erste Begeisterung und mein erster Blutdurst (!) sind gestillt, so was verschwindet merkwürdig rasch, durch die erste Feuertaufe schon. Sie haben der ruhigen, vernünftigen Überlegung Platz gemacht, daß, wo Kraft vorhanden ist, sie auch ausgenutzt werden muß. Die 1. Kavallerie-Division« – HGs Regiment – »bleibt aber unwiderruflich hier als Polizei-Truppe bis zum Friedensschluß, da sie die meisten litauisch und polnisch sprechenden Unteroffiziere und Mannschaften hat.«
»In den nächsten Wochen muß es sich entscheiden, ob mit Rußland der Krieg noch mal beginnt. Sollte das nicht der Fall sein, hättest Du dann grundsätzlich etwas dagegen, daß ich mich zu einem anderen Regiment im Westen melde? Ich werde in den nächsten Tagen Fähnrich werden. Die Offiziersbeförderung könnte sofort erfolgen, sobald ich mich mit ihr gleichzeitig versetzen lasse. Es würde mir schwer werden, mein jetziges Regiment, dem ich nun schon über anderthalb Jahre angehöre, zu verlassen, aber sentimentale Gefühle darf man mit dem großen Zweck im Auge nicht aufkommen lassen. Ich denke
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