Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
nicht. Franz Vitt war schließlich tot.
Trotz des neu geschenkten Lebens faßt HG schwer wieder Tritt. Er erleidet einen Reitunfall, bei dem ihm sein Pferd den Kiefer zertrümmert und mehrere Zähne ausschlägt. Ich halte das nicht für Zufall – wiederholt wird der Junge, wenn er Schwierigkeiten macht oder in sie hineingerät, von seinen Pferden gröblichst abgestraft. HG muß sich in Königsberg langwierig und schmerzhaft den Kopf wieder herrichten lassen, und dort flippt er offenbar völlig aus. Er säuft, treibt sich mit »kleinen Schauspielerinnen« herum, wobei »es nicht zum Letzten gekommen ist«. Kurt nimmt das dankbar zur Kenntnis, fühlt sich indes veranlaßt zu der Warnung: »Alkohol und Frühling in loser Damengesellschaft machen leicht die besten Vorsätze zuschanden.«
Mehr beunruhigt ihn, was HG an seine Schwester schreibt, nämlich daß er daran denkt, »selbst Schluß zu machen und mit meinem Leben die Tat zu sühnen«. Eine andere Variante ist »die freiwillige Meldung an die gefährlichste Stelle der Westfront«. Kurt: »Zum Donnerwetter, habe ich denn umsonst meinen Kindern aus dem Klamroth-Archiv so oft der Urahnen Wort vorgelesen: ›Wenn, indem dein kleiner Kahn auf dem Ozean dieser Welt fähret, rauhe Stürme und widrige Winde deinen Schrecken rege machen – so erinnere dich nur an Gott!‹ Alter Junge, hast Du denn ganz Deinen Herrgott und seine Gebote vergessen, daß Du anstatt an Ihn zu denken, Dir einen falschen Altar eines überspannten und irreführenden Ehrenkodex’ aufrichtest? Daß Dir in Deiner schwarzen Stunde nicht christliche Überzeugung, nicht Dein Glaube die rettende Hand entgegenstreckte, sondern daß Du taumelnd Halt suchst, ohne ihn zu finden, das macht mich sehr traurig.«
HG taumelt wahrlich und dreht auch ins andere Extrem: »Ich stürze mich mit Anstrengung in den Trubel des Vergnügens und des Sich-Auslebens, um mir schnell mal zu zeigen, was alles genossen werden kann und wie selbst durch diese leichtere Hälfte das Leben lebenswert ist«, schreibt er an die Schwester.
Daß HG in diesen anstrengenden Exerzitien noch nicht mal Pause macht, als Mutter und kleiner Bruder nachts im Hotel auf ihn warten, veranlaßt Kurt zu einer brieflichen Philippika: »So geht das nicht. Du kommst mir vor wie ein guter Wein, der Bodensatz hat, und der durch eine harte Faust durcheinander geschüttelt ist. Du bist durch den Vorfall vom 22. April und durch die ganze Kriegszeit völlig durcheinander gekommen. Das muß sich erst wieder in Dir ›setzen‹, dann kommt die Klarheit, die ich jetzt in Dir vermisse.«
Die Klarheit kommt mit einem Marschbefehl von HGs Rittmeister. Am 5. Juni 1918 fährt der junge Mann seinem Regiment hinterher nach Odessa. Wieso die Ukraine? Die hatte sich nach der Russischen Revolution für unabhängig erklärt und bei den Verhandlungen von Brest-Litowsk Anfang Februar 1918 einen Sonderfrieden mit den Mittelmächten abgeschlossen. Das interessiert die Bolschewiki überhaupt nicht, die sich das kostbare Land für ihr Sowjet-System zurückholen wollen. Eilig besetzen sie Kiew und vertreiben die junge Regierung, die daraufhin die neuen Freunde zu Hilfe ruft. Die kommen auch prompt, immerhin 400 000 Mann. Einer von ihnen ist HG.
Er fährt vier Tage und vier Nächte bis Kiew, versehen mit Schlackwurst, Sandkuchen und einer Flasche Rotwein von seinen ostpreußischen Herrenhaus-Freunden. Dann noch mal 20 Stunden im offenen Viehwaggon bis Myrgorod – das ist aber auch weit! Ich habe mir das staunend im Atlas angesehen, staunend, weil das Deutsche Reich nach vier Jahren pausenlosem Krieg noch ein paar 100 000 Mann übrig hat, die mit aller dazugehörigen Logistik, mit Pferden, Wagen, Geschützen, Lazaretten, Feldküchen, Biwaks und was noch alles gebraucht wird, hierher in die ukrainische Steppe geschickt werden. Die Oberste Heeresleitung träumt außerdem mal wieder von einem »deutschen Siedlungsgebiet, einer deutschen Kolonie am Schwarzen Meer« – so der zweite Mann aus Hindenburgs Führungsriege, Erich Ludendorff.
»Steppe klingt so hungrig«, bangt Mutter Gertrud kurz nach seiner Ankunft in einem Brief an HG. Bei näherem Hinsehen ist es weniger die Sorge um seine Verpflegung, die sie umtreibt, als die Hoffnung, der Sohn möge auch hier irgendwo Mehl, Grieß und Reis finden für die Halberstädter Küche. »Du könntest eine Kiste mit Papier auslegen, das Mehl hineinschütten und in das Mehl Eier vergraben, wenn Du welche hast«, schlägt sie vor.
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