Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
von sich behauptete, sie sei das amüsanteste Mädchen, das die Insel Lolland je hervorgebracht hat. Die Geschichten über sie sind Legion – sie hat nie richtig Deutsch gelernt oder vielleicht auch ihr ulkiges Kauderwelsch kultiviert, weil sie wußte, wie die Menschen sich darüber freuten. »Du bist der irritierendste Kind, den es ist zu haben«, hat sich bei uns bis heute gehalten, ebenso »Iiih, ich möcht nicht ihm sssein« – der Ausruf einer mitfühlenden Seele in die peinliche Stille, die ein Unglücksrabe verschuldet hat. Als eine Schwägerin ihr wegen ihrer Sprach-Schlamperei Vorwürfe machte, ließ Dagmar sie kühl abblitzen: »Ja, aber mir verstehen sie besser als dir.« Einmal bekam Else von ihrer Mutter einen langen Brief ins revolutionäre Berlin, wo der Teufel los war auf den Straßen. Dagmar geht mit keinem Wort darauf ein, nur an den Rand kritzelt sie zum Schluß: »Ich soll mir ja eigentlich ängstlichen, aber ich vergess es immer.«
Sie war kugelrund und winzig, keine 1 Meter 60 groß, und ihrem Zwei-Meter-Mann Paul reichte sie knapp bis zur Schulter. Über den gerät Else noch 50 Jahre später ins Schwärmen: die Inkarnation eines Gentleman, blendend aussehend, stilsicher im Auftreten, warmherzig, ein Familienmensch voller Humor, »nicht wirklich gebildet, aber in seinem Fach« – er war Ingenieur – »eine Koryphäe«. Leider war er kein Kaufmann, sonst wäre ihm das Podeus-Imperium wohl nicht in der Inflation so völlig abhanden gekommen. Else war dankbar, daß Paul schon 1926 starb, da war er zweite Hälfte 50, »aber mein Vater ohne Geld, das wäre schwer zu ertragen gewesen«.
Die Gefahr besteht noch nicht, als HG und Else sich Weihnachten 1920 über den Weg laufen. Else hatte da schon ihre Ausbildung hinter sich, wenn man das so nennen kann. Sie verläßt Ostern 1915 mit 16 Jahren das Städtische Lyzeum zu Wismar, wo sie nach eigenen Angaben nichts gelernt hatte. Nach einem dänischen Sommer ist nun nicht mehr wie in der Vorkriegszeit bei ihrer älteren Schwester London, Paris oder auch nur die Schweiz angesagt. Else landet am »Ersten Lyceum für Damen« in Dresden, wo ihr »Welt- und Kulturgeschichte, Mythologie«, neben Sprachen auch »Häusliche Pflicht und weibliche Handarbeiten« beigebracht werden, oder besser: hätten beigebracht werden sollen. Sie hat zeitlebens mit anzunähenden Knöpfen Krieg geführt. Es gab wohl mal die Vorstellung, daß sie Kauffrau werden sollte, denn sie hospitiert in den Firmen ihres Vaters, besucht in Berlin erst eine Handelsschule für Mädchen, dann zwei Semester lang die Handelshochschule dortselbst, wo sie bei Werner Sombart Nationalökonomie hört und bei einem Dr. Siebert »Sittliches Leben«.
Das geht von April 1918 bis Ostern 1919, und das sind wilde Zeiten in Berlin. Else stürzt sich ins Getümmel, besucht Veranstaltungen des Spartakus, demonstriert gegen die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, steckt eine Menge Geld und Zeit in ein Sozialprojekt im Berliner Osten. Sie schreibt Wahlaufrufe für die Sozialdemokraten, streitet sich mit einem Studentenpfarrer über den moralischen Gehalt der »freien Liebe« – er dafür, sie dagegen. Natürlich ist das ein Gesellschaftsspiel. Als die Kunde bis nach Wismar dringt, die Tochter des Kommerzienrats Podeus sei in Berlin eine ganz Rote geworden, genehmigen sich Vater und Tochter jeder zwölf Austern und stoßen an auf diesen amüsanten Unsinn.
Denn wie HG, als ihn im Auto seines Vaters die »Schieber«-Rufe der »armseligen Fußgänger« nicht erreichen, hat natürlich auch Else keinen blassen Schimmer von der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Daß die sozialen Verhältnisse verbesserungsbedürftig sind, daß endlich gleiche Rechte für alle durchgesetzt werden müssen und der kaiserliche Obrigkeitsstaat in die Wüste geschickt gehört – alles geschenkt. Daß dies auch sie oder gar ihren Vater mit seinen industriellen Großbetrieben betreffen könnte, kommt ihr nicht in den Sinn. Der ist doch nett zu seinen Arbeitern, zahlt die höchsten Löhne in Mecklenburg, und Else und ihre Geschwister haben ihre ganze Kindheit hindurch die warmen Socken und das Kinderspielzeug zu Weihnachten in die Wohnungen der Mitarbeiter getragen. Und wenn sie im Anschluß an ihren Dienst in dem Sozialprojekt im Berliner Osten mit ihren Freunden auf dem Wannsee segeln geht – was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Trotzdem findet Paul, es sei jetzt genug mit dem Berliner Hexenkessel, und Else
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