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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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umarmt Annie und schluchzt: »Mich, der sonst nie heult, hast du su’s Weinen gebracht!«
    Die Familien-Fahne wird hochgezogen vorm Haus, und es strömen die Gratulanten. Alles, was Rang und Namen hat in der Stadt, macht seine Aufwartung, Bürgermeister, Stadtrat, Handelskammer, eine Abordnung der ehemaligen Seydlitz-Kürassiere kommt in Uniform und zu Pferde, Kameraden aus der Kriegsamtstelle in Zivil und zu Fuß. Die Kirchen schicken ihre Pastoren, aus dem Cecilienstift wuselt ein Schwung Diakonissen ins Haus, der Kleinkinderschulverein liefert Verse ab und der Betriebsrat von I. G. Klamroth ein Glasfenster mit Wappen. Die Herren vom Airdale-Club sind mitsamt Hunden vertreten, sogar der längst aufgelöste Luftflottenverein Halberstadt schickt einen kleinen Fesselballon.
    Es gibt Aufführungen jede Menge, vor allem musikalisch – die Familienband »Benno Nachtigall« hat viel zu tun. Man speist vorzüglich, diesmal von Meißner Porzellan, 46 Menschen in Abendkleid und Frack sitzen um die Tafel, der Tisch ist dekoriert mit versilberten Myrten-Zweigen und späten Rosen. Als die Gäste fort sind früh um zwei, sitzt die »Silber«-Familie noch am Kamin zusammen, bis Kurt jun., wie immer nach gemeinsam verbrachten Abenden, auf dem Klavier den Nachtsegen anstimmt: »So legt euch denn, ihr Brüder«. HG im Tagebuch: »Ein schöner Tag. Trotzdem sehe ich jetzt vieles anders durch Elses Augen.«
    Anfang Januar 1923 ziehen sie nach Bochum. Die Ein-Zimmer-Wohnung in der Auguste Viktoria-Allee ist ihr erstes eigenes Zuhause  – HG hängt Schiller in Schönschrift in den Flur: »Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar«. Sie genießen alles: den Kohle-Ofen und die Kochkiste, den Abwasch in einer Blechschüssel und das Klappbett vor dem viel zu kleinen Kleiderschrank. Elses Unordnung hört schlagartig auf, und sie steht morgens um fünf auf, um HG Frühstück zu machen, wenn der für den neuen Arbeitgeber über Land fahren muß. HG ist »glücklich!!!«. Bei der Ammoniak-Verkaufsvereinigung ist er eine Art Feuerwehrmann und darf all die Sachen machen, die er liebt: Statistiken führen über Düngungsversuche, Rentabilitätsberechnungen und Preisvergleiche anstellen, er kümmert sich um auswärtige Patente und englische Lieferlisten – das klingt schrecklich, aber HG schreibt doch so gern Zahlen untereinander.
    Der Brötchengeber ist fürsorglich mit seinen Mitarbeitern. Weil im streikgeplagten Ruhrgebiet auch auf Lebensmittelkarten häufig nichts zu haben ist, versorgt die Ammoniakverkaufsvereinigung mittels einer eigenen Abteilung die Angestellten mit dem Nötigsten – in HGs Tagebuch erscheint in kurzen Abständen: Mehl ausgegeben im Kontor, Pökelfleisch, Margarine, Eier, Speck, Zucker, Schokolade. Wurst – zu moderaten Kosten, was angesichts der rasant kletternden Preise draußen für viele die Rettung bedeutet. Noch hat die Hyperinflation nicht eingesetzt, aber der Dollar ist von Anfang Oktober auf Anfang November 1922 um das Dreifache von 2000 auf 6400 Mark gestiegen, und das Karussell dreht sich immer schneller.
    Richtig in Fahrt kommt es mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen und Belgier. Am 11. Januar 1923 rücken die ein, etwa 100 000 Mann unter dem Vorwand, das Deutsche Reich habe seine Holz- und Kohlelieferungen nicht erfüllt. Die Regierung ruft daraufhin den passiven Widerstand an der Ruhr aus, das heißt: Alle Reparationsleistungen werden eingestellt. Mit einem Schlag ist das Ruhrgebiet lahmgelegt. Die Bergarbeiter fördern keine Kohle mehr, Verwaltungen, Post, Eisenbahnen stehen still, sobald die Franzosen Befehle erteilen. Das gesamte Reich solidarisiert sich mit dem Ruhrkampf, und das gesamte Reich geht damit finanziell in die Knie. Denn die Gehälter und Löhne der Streikenden müssen vom Staat natürlich weitergezahlt werden. Das ist ein Faß ohne Boden, und die Reichsbank stopft immer mehr Geld hinein, frisch gedrucktes, wertloses Geld.
    Die Besatzungsmächte reagieren mit Verhaftungen und Ausweisungen, der verschärfte Belagerungszustand wird verhängt mit Kontrollpunkten an jeder Ecke und nächtlichen Ausgangssperren. Es kommt zu Krawallen, in Essen werden 13 Arbeiter erschossen, in Bochum vier arglose Passanten. Das junge Glück sitzt da mittendrin. Sie schlängeln sich an Kontrollposten vorbei auf der Suche nach einem Lebensmittelladen, der durch die Hintertür verkauft, denn die Franzosen verfügen oft tagelang die Schließung aller Geschäfte. Else

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