Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
und HG frieren in ihrer kleinen Wohnung wegen der Kohlensperre, oft gibt es weder Wasser noch Strom, Post wird mit Kurieren ins nicht besetzte Hamm geschmuggelt, wobei die Franzosenkontrolle in Scharnhorst auf dem Zug-Klo ausgesessen werden muß, sonst werden die Briefe kassiert. Else ist schwanger.
»Ich fühle mich ehrfürchtig«, schreibt HG ins Tagebuch. Und fürsorglich. Else geht es nicht gut. Sie muß sich dauernd übergeben, ihr Kreislauf knickt weg, schlimmer noch – jetzt wird sie verfolgt von »schwarzen Vögeln«. Was ist das für eine Zeit, in die dieses Baby hineingeboren werden soll: Der Dollar steigt von 10 000 auf 20 000 Mark und steht Anfang Juni auf 100 000 Mark. HGs Gehalt hat sich in einem Monat um das Siebenfache erhöht, die Preise auch. Die Gewalt auf den Straßen ist beängstigend – in Bochum schlagen nicht nur die Franzosen zu. Unbekannte begehen Lynchmorde an vorgeblichen Kollaborateuren, und Freichorpsveteranen der radikalen Rechten verüben Sprengstoff-Attentate gegen Soldatenzüge und Eisenbahnbrücken. Der Freichorpskämpfer Albert Leo Schlageter wird deswegen von den Franzosen hingerichtet, was zu Ausschreitungen in ganz Deutschland führt. Kein gutes Umfeld für eine werdende Mutter.
Es bricht ihm fast das Herz – »Tränen beim Abschied!« –, aber HG schafft Else nach Wismar. Das ist nicht einfach, nur mit Hilfe eines Freundes und verschrobenen Zugverbindungen gelingt es, sie durch Kontrollposten und Grenz-Schikanen nach Bremen zu bringen, wo Paul Podeus sie abholt. HG selbst schlägt sich durch nach Halberstadt, denn jetzt muß die Zukunft geregelt werden. Die führt geradewegs zu I. G. Klamroth – mit Kind ist alles anders. Da gondelt man nicht mehr von Versuchsstation zu Versuchsstation, jedenfalls damals nicht. Kurt hatte schon recht, als er HG noch vor der Hochzeit nach Amerika schickte.
In Halberstadt werden der Vertrag besprochen über die Teilhaberschaft in der Firma und mögliche Wohnungen ins Auge gefaßt – ein Umbau bietet sich an im weiträumigen Geschäftshaus an der Woort, wo früher die Altvorderen ihr Domizil hatten. Doch den ganzen Tag mit dem Senior-Chef unter einem Dach, immer greifbar? Dann gibt es noch eine Wohnung im Haus der Großmutter Vogler am Domplatz, und Gertrud kommt auf die Idee, sie könnten den obersten Stock am Bismarckplatz beziehen. Vermutlich hört HG Else aufjaulen und lehnt dankend ab.
Ostern fährt HG auf abenteuerliche Weise nach Wismar – die Auseinandersetzungen um die Eisenbahnen im besetzten Ruhrgebiet haben den Zugverkehr in ganz Deutschland durcheinandergebracht. HG legt seinen Kopf auf Elses wachsenden Bauch, und das Baby tut ihm den Gefallen: Es boxt. HG hingerissen: »Was ist wichtiger im Leben als eine solche Frau und ein solches Wunder von einem Kind!« Die oberen Stockwerke in Ravelin Horn sollen vermietet werden, es sind ohnehin keine Kinder mehr im Haus. Else und HG suchen Möbel aus, die sie nach Halberstadt haben wollen, HG mit etwas mulmigem Gefühl, »weil ich nicht weiß, wie ich das bezahlen soll«. Offenbar müssen die Kostbarkeiten verkauft werden, Paul und Dagmar brauchen Geld.
Den April über schleppt HG Koffer und Pakete ins nicht besetzte Hamm, er räumt die kleine Wohnung bis auf das Nötigste aus, er will weg aus dem Ruhrgebiet. Die Sachen werden durch Freunde von Hamm aus nach Halberstadt verschickt, aber sie dahin zu bekommen, kostet Nerven. Einmal gibt es einen »skandalösen Disput« mit französischen Soldaten, die Küchenutensilien zu einer illegalen Ausfuhr erklären – HG: »Sehr gefährlich! Die sind so nervös!« Die Atmosphäre ist äußerst gespannt, Heckenschützen fügen den Besatzern Verluste zu, die rächen sich mit der Verhaftung ganzer Straßenzüge. Und der Dollar steigt und steigt – HG bezahlt für einen Haarschnitt 4000 Mark.
Aus heiterem Himmel wird er nach Berlin versetzt, ein Feuerwehreinsatz in der dortigen Niederlassung der Ammoniak-Verkaufsvereinigung. Das ist Ende April 1923. Er gönnt sich keine Pause. Noch am Tag seiner Ankunft in Berlin geht er in sein neues Büro, begreift schnell, daß dies unbekanntes Terrain ist und Arbeit kostet. Folglich arbeitet er wie ein Berserker von morgens früh bis abends spät. Monate später, da ackert HG schon in der Firma I. G. Klamroth, steht im Tagebuch: »Wutanfall Onkel H.« – das ist der andere Teilhaber Heinrich Schultz – »wegen meiner Arbeitswut«. HGs Tempo ist nicht jedermanns Sache.
Die meisten Leute
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