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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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dem glühenden Willen Deines Vaters und seinem starken Wunsche, sich über sich selbst hinauszuheben, unsterblich zu werden in Dir – und aus der brennenden Sehnsucht Deiner Mutter, Leben zu spenden und für Leben zu leben. Wunsch Deines Vaters und Sehnsucht Deiner Mutter wurden zusammengetragen zur lodernden Flamme, die uns hoch emportrug in dem Verlangen nach Dir – und so wurdest Du.« Kinder überstehen so was. Die schnurpseln sich das Pathos auf Normalmaß herunter. Soll er doch, der Vater, soll er doch andächtig innehalten vor dem Kind! Else, die Mutter, ist von Natur aus näher dran: »Mein Kleines, während ich Dir schreibe, fühle ich Dich in mir, wie Du durch die manchmal recht kräftigen Stöße zu verstehen gibst, daß Du bald hinaus willst und den Lebenskampf aufnehmen, daß Du, obwohl noch sicher und geborgen in mir, schon etwas Eigenes bist, ein eigenes kleines Wesen.« Recht hat sie.
    Ob sie sich fürchtet vor der Kraftanstrengung, die ihr bevorsteht, lese ich nirgendwo. Als ich meine Kinder bekam, ist mir nicht eine Mutter begegnet, die ihrer Tochter die Wahrheit gesagt hat über die Tortur einer Entbindung. Else hat mich nicht gewarnt. Millionen Frauen kriegen täglich Kinder, hieß das, da wirst du doch wohl auch! Stimmt. Aber schön finden muß man das nicht. Kurz bevor die Quälerei vorbei ist, beschreibt HG im Tagebuch für das noch ungeborene Kind die Verstörung der Erstgebärenden: »Deine Mutter hat mich mit ihren lieben, heute so todmüden Augen angesehen und hat geflüstert, ›Ich wußte nicht, daß es so weh tut!‹« Arme Else! Hausgeburt natürlich, keine Spritzen, sie hat neun Stunden gebraucht. Doch jetzt ist Barbara da, es ist der 25. August 1923, und wenn HG je einen Anlaß gehabt hat, Schubert zu bemühen – hier ist er: »Nun muß sich alles, alles wenden!«
    Sie sind überwältigt von dem Wunder Kind. Sie sind Teil der Schöpfung, Gottes Werkzeug, Mutter Erde und Vater Geist, sie sehen die Metaphysik unserer Welt in diesem Würmchen von Tochter – und sie haben recht. Nie wieder sind demütige Dankbarkeit und jubelnde Freude über die Teilhaberschaft an der Größe allen Lebens intensiver als in den kurzen ersten Wochen eines ersten Kindes – das gibt sich, wenn das Baby quakt und Durchfall hat und einem den Nachtschlaf raubt, wenn Mütter vor Müdigkeit nicht aus den Augen gucken können und der kindliche Alltag das Leben umkrempelt gründlicher als alles, was man sich vorgestellt hat. Dann greifen die Reflexe schneller als die Anbetung – mit kleinen Kindern hat niemand mehr einen Kopf für Metaphysik. Trotzdem: Das Wunder bleibt. Staunend betrachte ich meine Töchter, die ein Teil sind von mir. Und staunend denke ich, daß ich nicht ich wäre ohne HG.
    Sie erholt sich schwer von der Geburt. Else heult sich die Augen aus dem Kopf – postnatale Depression nennt man das, und HG ist ganz durcheinander deswegen: »Warum weint sie so heftig? Mutter sagt, das hat etwas mit der Umstellung des Körpers zu tun.« Das stimmt. Aber es sind auch die unglaublich wachen Sinne, die diese Tränen treiben, die Überwältigung durch die Verantwortung, der Verlust der geschützten Zweisamkeit, das trotz aller Freude erst mal Fremde, das sich im eigenen Leben einnistet. All das passiert nur beim ersten Kind. Else bekommt in schneller Folge noch zwei, da weint sie nicht mehr. Da kann sie das. Und noch was kann sie. Kinder kriegen »wie ein Stück nasser Seife« (O-Ton Else). Flutsch waren die da, keins der vier Nachgeborenen hat länger als eine Stunde gebraucht von der ersten Wehe an. Kein Wunder, daß Else mir nichts von einem Höllentrip erzählt hat. Sie hatte die neun Stunden mit Barbara vermutlich vergessen.
    HG gelingt es kaum, das Kind zu genießen. Er ist von früh morgens bis spät abends in der Firma, gebeutelt von Ängsten wegen der wirtschaftlichen Situation. Die Währung verfällt so schnell, daß Else und er zweimal geplante Ausflüge in den Harz aufgeben müssen – das Geld, gestern von der Bank geholt, deckt heute nicht mehr die Kosten für die Fahrt. Die Tochter wird am 4. November 1923, das ist der Reformationstag, zu Hause getauft mit einem »ganz kleinen Fest« für 20 Leute – die Herren im Frack, das silberne Taufgeschirr der Familie auf dem Altar in der Diele. Stimmungsvolle Schilderung des Vaters im Kindertagebuch: »Möge dieser Tag ein Baustein gewesen sein in Deinem Leben«. Dazwischen platzt Elses empörte Schrift: »Der Braten kostete eine Billion

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