Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
rufen: Abba, lieber Vater.« Dann donnert die Orgel »Großer Gott, wir loben Dich!«, und mit allen Chor-erprobten Klamroths und den weniger musiktrainierten Podeussens singt HG aus vollem Herzen mit. Else singt nicht. Das kann sie nicht.
Zu Hause in Ravelin Horn sind die beiden langen Tafeln Dagmars Meisterstück. Was die Schränke hergeben an Porzellan, Silber, kostbarer Tischwäsche, ist aufgefahren. Kerzen, Blumen, Trauben aus den hauseigenen Gewächshäusern als Dekoration, Gläser, die damals zum Einsatz kamen, benutze ich heute noch für meine Festessen. Bei den Tischreden wendet sich Hausherr Paul zu Anfang an die ausländischen Gäste. Dies sei eine deutsche Hochzeit und gerade in trüber Zeit sei es eines jeden Deutschen Pflicht und Bedürfnis, als erstes seines Vaterlandes zu gedenken: »Ich erhebe mein Glas auf Deutschland.« Ein paar Jahre vorher wäre das der Kaiser gewesen – nun denn.
Schwiegervater Kurt geht auf Elses Bedenken ein, sich in den Klamroth-Klan einzuklinken – woher er davon wohl weiß? Erzählt hat Else bestimmt nichts. Er beruhigt sie, Tradition habe in der Familie nie bedeutet, daß Hinzugekommene sich vereinnahmt fühlen müßten: »Wir geben dir familiäre Sicherheit, du gibst uns dein frisches Blut zum Segen künftiger Geschlechter.« Bevor Else vor Schreck in Ohnmacht fallen kann, macht Kurt deutlich, wie er sehr wohl begriffen hat, daß sie von ganz woanders herkommt. »Die Podeus’ sind von Alters her ein seefahrend Geschlecht, sie sind sturmerprobt und durch ihre nahen Beziehungen zu den Völkern jenseits des Meeres leicht beweglich und schnell von Entschluß. Schwerer pulst das Blut in den Adern der Harzer Klamroths, die« – so sprach schon der alte Moltke – »ernstlich wägen, bevor sie wagen.« Aber das sei es schließlich, warum diese Verbindung so zukunftsträchtig sei, und deshalb stoße er nun mit Freuden an auf die Familien Podeus und Cruse.
Der Kaffee wird in den Gesellschaftsräumen serviert – Kurt, der Chronist, kann gar nicht aufhören, die Antiquitäten zu bewundern, die Bilder, die Teppiche, die üppigen Blumenvasen, die Kristallkaraffen mit den Digestifs, das lautlose Personal. Es ist das letzte große Fest in Ravelin Horn, und es leuchtet die unangefochtene Heiterkeit einer Welt, die Untergang nicht zuläßt. Else später: »Wir wußten alle, daß es zu Ende ging. Trotzdem war es so, als ob dieses Ende uns nie erreichen würde. Ravelin Horn hatte uns wieder mal verzaubert.«
Sie sind die ersten, die sich losreißen müssen. Als Kranz und Brautstrauß ausgetanzt sind, verläßt das junge Paar im Auto die Hochzeitsgesellschaft – schade eigentlich, aber die Sitten, sie waren so. In Wismar wird noch bis früh um fünf gefeiert, Else und HG fahren nach Lübeck ins Hotel Stadt Hamburg »todmüde, beide ganz erschöpft in unserer Hochzeitsnacht«. Das gibt sich während der Hochzeitsreise. Die geht in die bayerischen Alpen, sie kraxeln von Berchtesgaden aus die Berge rauf und runter bei strahlendem Wetter, und wenn es regnet, bleiben sie den ganzen Tag im Bett. HG schreibt dänisch in sein Tagebuch: »Vi er saa forelskede« – wir sind so verliebt! – und deutsch mit griechischen Buchstaben, konspirativ gegen mögliche Mitleser: »Wir haben uns sehr lieb!« und »Kleines Pech«. Da mag nun jeder sich seinen eigenen Vers drauf machen. Ich spüre nur, wie gut es ihnen geht. Drei Wochen bleiben sie weg, und es ist das schiere Glück. Als sie zurückkommen nach Halberstadt, steht das nächste Fest vor der Tür: Kurts und Gertruds Silberhochzeit.
Die ist am 9. Oktober, und ich finde sechsstimmige Chorsätze von Kurt jun. komponiert, die schon in Allerherrgottsfrühe vor der Schlafzimmertür des Jubelpaares gesungen wurden – das machten die Klamroths so an Festtagen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Haus bis oben hin voll Menschen steckte, muß das bei Geburtstagen geklungen haben wie die Fischer-Chöre. Ich erinnere mich an »Es tagt der Sonne Morgenstrahl« und »Wach’ auf mein Herz und suche Freud« morgens um sechs, schwänzen ging nicht, mein Sopran wurde gebraucht. Else, die nicht singen konnte, schlief dankbar länger. Zur Silberhochzeit ist die Familie nach dem frühmorgendlichen Ständchen schon um halb neun gestiefelt und gespornt in der Diele versammelt, wo Annie den Silberkranz überreicht. Die Chronik schwärmt von dem »tief beweglichen Augenblick« und vermeldet Gertruds »leise Tränen«. Dagmar Podeus rettet den Tag. Sie
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