Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
Vom Netzwerk:
mit denen die Leute zum Baden kommen. »Auch junge Mädchen fliegen die!« wundert er sich, »ist das die Zukunft?« Das Leben um ihn herum spielt sich ab in typischer Südstaaten-Manier, langsam, dem Klima angemessen, in der Düngemittelfabrik – »Morris Fertilizer Co.« – macht sich keiner tot, alles läuft in Hemdsärmeln herum, die Leute gehen zum wrestling-match, fahren abends in ihren Autos langsam über den »Korso«, und vor allem gehen sie in die Kirche.
    Es ist allerdings nicht so, daß in Wilmington, N.C. oder in Bartow, Fla die Tugend zu Hause wäre. HG wird mehrmals konspirativ in verborgene Keller eingeladen, wo die Gastgeber ihren Schnaps vor der Prohibition versteckt haben, und häufig beschließen die Honoratioren nach dem Kirchgang einen Besuch im Puff. HG klinkt sich da aus als »tapfer Verlobter«, er hätte sich das ohnehin nicht leisten können. Die Preise rauben ihm den Nachtschlaf – nicht die amerikanischen Preise, die sind moderat, aber wenn er 1.40 $ für einen Haarschnitt zahlt, dann sind das inzwischen 400 Mark. Die Wäscherei kostet pro Woche 897 Mark, eine Straßenbahnfahrt 114 Mark. Der Dollar steht bei 285 Mark und steigt täglich, und da HG bei den Geschäftsfreunden von »Morris Fertilizer« nur 50 $ Aufwandsentschädigung bekommt, muß er an Kurts Deposit gehen, das der in Höhe von 100 000 Mark für ihn bei einer US-Bank hinterlegt hat. HG kann absehen, wie lange das reicht.
    Das alles trägt nicht zu seinem Wohlbefinden bei – wegen der Geldknappheit ist er unbeweglich, die Leute langweilen ihn, der Job vermittelt ihm nichts Neues. Nur Englisch lernt HG in gewohnter Manier sehr schnell einschließlich der Orthographie.
    Selbst die Mädchen gehen ihm auf die Nerven: »Die können zwar Auto fahren und ›pies‹ backen, aber sonst gackern sie nur. Als ich neulich die Tochter des Kantors fragte, warum sie dauernd kichere, guckte sie mich mit entwaffnender Offenheit an und sagte – ›because I’ve nothing else to do‹ – sie hat ja recht.« Die Post von zu Hause ist auch nicht hilfreich: »Vater schreibt, ich solle ›Milieu-Studien‹ betreiben, und Mutter rät mir ›carpe diem‹ – beides ist hier schon lange ausgeschöpft.« Elses Briefe machen HG traurig – »ich fühle mich verbannt und finde keine Gemeinsamkeit mit ihr außer in meiner Sehnsucht«.
    Warum geht er nicht, warum guckt er sich nicht Amerika an? Ich vermute, daß Kurt ihn für einen bestimmten Zeitraum an die »Morris Fertilizer« ausgeliehen hat. HG wird die Geschäftsbeziehungen beider Firmen nicht stören wollen, schließlich ist es nett, daß die Morris-Leute ihn genommen haben. Ein anderer Grund ist das fehlende Geld – das Deposit hat Kurt ihm nicht zum Verjuxen hinterlegt. Trotzdem: Schon damals wäre HG nicht der erste gewesen, der sich auf eigene Faust in den USA durchschlägt. Er fragt sich selbst, warum er sich nicht aufmacht: »Autorität – Respekt – Liebe – Furcht – Disziplin?« Er bietet auch an: »Schwachheit – Feigheit. Ist meine Entschlußkraft völlig vor die Hunde gegangen?« Welche Entschlußkraft?
    Die Rettung kommt von außen. Der Chef bei Morris schickt HG halb dienstlich, halb auf Urlaub nach Chicago und New York. Er solle wenigstens etwas von Amerika sehen. HG telegraphiert an Kurt um Erlaubnis – faßt man das? –, »einverstanden!« kommt per Kabel zurück, und schon sitzt HG im Pullman, jenem berühmten Großraum-Wagen der amerikanischen Eisenbahnen, in denen die Sitze nachts zu Liegen wurden – ich kenne die nur von Fotos, denn wer fährt in den USA heute noch Zug auf langen Strecken? HG kommt nicht zum Schlafen, er hat eine »nett aussehende Frau gegenüber. Große Reden!« – ich ahne, daß seine »Geschichten« wuchern.
    In Chicago, viel mehr noch in New York gehen ihm die Augen über: »This is America!« Die Firma Morris sorgt dafür, daß er unter Leute kommt, plötzlich ist auch der »reiche Onkel« Ernst Hothorn wieder da. HG wird weitergereicht, geht in die Carnegie-Hall und in die Metropolitan Opera, sieht mehrere Shows am Broadway, fährt nach Long Island, spielt Tennis, reitet. Jetzt sieht er richtig wohlhabende, geschmackvolle Häuser und entdeckt, daß auch das weiße Amerika seine Klassengesellschaft hat. Es ist außerdem alles gar nicht so teuer, weil er immerzu eingeladen wird – als ob ein vertrocknetes Blümchen endlich Wasser bekommt, lebt HG auf, trabt von morgens bis abends durch die Straßen. Soll er Else nicht

Weitere Kostenlose Bücher