Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
scheinen ihn zu mögen. Seine Vorgesetzten, auch der Direktor der Ammoniak-Verkaufsvereinigung, ein Dr. Ruperti, holen den jungen Mann – HG ist 24 – zu Besprechungen und Konferenzen mit Geschäftspartnern dazu. Ruperti, der in der ganzen Welt in Sachen Ammoniak unterwegs ist, hat ihn schon in Bochum als seinen persönlichen Assistenten genutzt. Jetzt macht er HG zu seinem Berliner Statthalter, der mit einem Block voller Aufträge zurückbleibt, wenn Ruperti wieder davondüst. Das nützt HG für den Rest seines Lebens. Auf die Namen, die jetzt in seinem Tagebuch auftauchen, stoße ich über die Jahre immer wieder. HG pflegt sein Netzwerk, seine umfangreiche Korrespondenz tut ein übriges. Auf den Briefen, die er bekommt, steht in seiner gestochenen Schrift die Notiz »beantw.« und das selten später als eine Woche. Selbst an die Langweiler von Morris Fertilizer im amerikanischen Wilmington, N.C. schreibt er oder an den deutschen Konsul auf Curaçao, nicht gerechnet all die Menschen, die HG privat wichtig findet – wer einmal drin ist im Netz, den hält er fest.
Einer der ersten Besuche HGs in Berlin gilt der »verehrungswürdigen Mutter« von Siegfried Körte, die seit ihrem Wegzug aus Ostpreußen hier wohnt. Er ist oft bei ihr, und im Tagebuch lese ich darüber: »Kummer wegen Siegfried« – »über das Sorgenkind gesprochen«. Noch ist der große Krach wegen der Devisen-Geschichte mit der alten Tante von Wolf Yorck nicht passiert, jedenfalls weiß HG bisher nichts davon, aber es gibt Anlässe genug zu düsteren Gedanken. Schon während seiner Amerika-Reisen hatte HG häufiger Hiobsbotschaften durch Else erhalten – ein Darlehen von ihr an den gemeinsamen Freund über 20 000 Mark war nicht zurückgezahlt worden, Kurt hatte sich einem Geldbegehren Siegfrieds widersetzt, in Bochum kamen »ärgerliche Briefe wegen Siegfried« an, und auch jetzt in Berlin muß es wieder um Geld gegangen sein. HG: »Siegfried ist ein teurer Freund.« Aber er mag ihn so gern – »er gehört zu meinem Leben« – und gemeinsam mit Mutter Körte ist HG »sehr traurig. Da liegt Unheil in der Luft.«
Das gibt es auch sonst mehr als genug. Wir sind im Juli 1923, und HG hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt den Job als Juniorchef in der familiären Firma antreten können, nunmehr der fünfte in annähernd 125 Jahren. Die Inflation galoppiert in die Billionen, kein Mensch kauft, und wenn jemand Rechnungen bezahlt, ist das Geld nur noch einen Bruchteil der Ausgangsbasis wert. Auf den Straßen gibt es Hungerkrawalle, auch in Halberstadt. Hausfrauen ziehen in kreischenden Protestmärschen durch die Straßen, weil es keine Lebensmittel gibt. An den Litfaßsäulen kleben die Suchanzeigen nach Leuten, die einfach verschwunden sind, und aus Parkanlagen grölt mal die »Internationale«, mal der Schlachtgesang der Feme-Mörder »die Brigade Ehrhardt werden wir genannt«.
Putschgerüchte gibt es ohne Ende, der Bürgerkrieg scheint täglich loszubrechen, in Sachsen und in Thüringen werden die Landesregierungen mit Waffengewalt abgesetzt, weil Kommunisten, legal gewählt, an ihnen beteiligt sind. In Bayern allerdings traut sich die Reichsregierung nicht, gegen »vaterländische«, von Hitler und seinesgleichen initiierte Aufstände ähnlich hart vorzugehen. Das Land ist ein Hexenkessel, und HG ist mit den Nerven am Ende. »Was soll bloß werden!« steht immerzu im Tagebuch, »wie sollen wir durchkommen?« – » gräßlich nervös! Sorgen! Wir reichen nicht mit dem Kapital!« – »Eine fürchterlich aufregende Zeit ist das!« Kurt übrigens scheint gelassener zu sein, »Vater versucht zu beruhigen«, schreibt HG mehrfach. Aber es ist dem Junior nicht zu verdenken, daß ihn Panik überfällt jetzt, wo er zum ersten Mal eigene Verantwortung trägt und das unter solchen Umständen. HG ist 25.
Zu Hause ist Else ziemlich allein gelassen. Ihr Baby muß bald kommen, sie fühlt sich schwer und unförmig, sie kann nicht schlafen, und »ein bißchen Heimweh« hat sie schon, gesteht sie ihrem Vater Paul. Die Wohnung ist inzwischen fertig einschließlich Kinderzimmer – Else und HG sind ins Haus der Großmutter Vogler am Domplatz gezogen. Daß sie ihren Mann, den sie nun endlich am selben Ort hat, derart wenig zu Gesicht bekommt, erträgt sie mit »der Tapferkeit einer Kriegsbraut«, so Paul. »Die Zeiten sind durchaus vergleichbar.« Else ist 24.
Sie schreiben beide an ihr ungeborenes Kind. HG zieht alle Register: »Geschaffen bist Du aus
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