Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
hierher holen, und sie bleiben?
Statt dessen bekommt HG Nachricht von zu Hause, daß Else eine Wohnung in Bochum gefunden hat – das ist das Signal. Jetzt kann er zurück. Jetzt wird geheiratet. In Bochum gibt es einen jederzeit verfügbaren Job für HG beim »Ammoniakverkaufsverein«. Nicht daß er davon träumt, in einem Verband die reichsdeutsche Ammoniak-Verteilung zu betreiben, aber, so HG an seinen Freund Theo Delbrück: »Mir ist Bochum erheblich lieber als Halberstadt, aus mannigfachen Gründen, und ich hoffe auch, daß Halberstadt danach noch nicht unser nächster Wohnsitz wird.« Die »mannigfachen Gründe« sind Elses Vorbehalte gegen das festgefügte Bollwerk aus Familie und Harz-Vorland-Society – »es wurde nicht so viel gelacht wie in Wismar«, schreibt sie an die Enkelkinder. Auch HG traut sich die Firma und vor allem den Vater noch nicht zu: »Ich muß meine Kraft wachsen lassen, damit ich neben ihm bestehen kann.«
Vor allem wollen die beiden erst mal mit sich allein sein, und das schnell. Also wird die Rückfahrt von New York aus mit einem Passagierschiff gebucht. Das heißt »SS Manchuria« und braucht bis Hamburg nur zehn Tage. Wie HG das bezahlt hat, weiß ich nicht, die Überfahrt auf dem norwegischen Frachter nach den USA kostete nur fünf Kronen, immerhin auch schon 250 Mark. Das hier muß viel teurer gewesen sein, denn auf der »Manchuria« geht es so zu, wie wir das aus dem Kino kennen: Bridge und Bord-Boccia, Captain’s Dinner im Frack, auch ein »Man over board« – ein Selbstmörder »aus der dritten Klasse«.
Und eine Bord-Liebe – jaja, wir sind im Kino. HG nennt sie Fatima, es gibt auch ein Foto von ihr, und das geht alles seinen üblichen Gang. Erst gemeinsames Bridgespiel und »angeregte Unterhaltung«. Dann ein »eigenartiges Gefühl für Fatima«, woraus »abends mit Fatima lange auf dem Vordeck« wird. Am Tag drauf: »Mit Fatima dinner geschwänzt. Auf dem Vordeck.« Als nächstes – die Zeit drängt schließlich: »Eine merkwürdige Unruhe zieht mich schon morgens zu Fatima. Fast wortlos in den Deckchairs bei strahlendem Wetter. Abends mit Fatima auf dem Vordeck: Mond …Windstille … lange Wellen … Meerleuchten … usw.« Am nächsten Morgen hat HG einen mentalen Kater: »Komme mir scheußlich dumm, albern und inkonsequent vor nach gestern abend.« Warum schreibt er nicht einfach, es war schön? Wenig später macht das Schiff an den Hamburger Landungsbrücken fest, drüben steht Else, Abschied von Fatima, HG ist wieder zu Hause.
Elses Heimat Ravelin Horn
S IEBEN
D IE H OCHZEIT WIRD FESTGESETZT für den 15. September 1922. Das bedeutet Streß, aber der spielt sich in Wismar ab. HG hätte eigentlich die verbleibenden drei Wochen genießen können. Kann er nicht, er wird zusehends nervös, springt zwischen Frackschneider in Berlin und Herrenschneider in Halberstadt hin und her, »regelt seine Angelegenheiten«, als handele es sich um Vorbereitungen für sein Ableben, und läuft zwischendurch stundenlang mit den Hunden durch den Wald »in tiefen Gedanken«. Er klammert sich an Horaz »aequam memento rebus in arduis servare mentem« – sei darauf bedacht, auch in harten Tagen deinen Gleichmut zu bewahren – doch daraus wird nichts. HG schleicht in Abschiedsstimmung durch das Halberstädter Haus, kämpft mit den schwarzen Vögeln – »hätte ich nicht doch in New York bleiben sollen? Das Schwierige an der Zukunft ist ihre Endgültigkeit. Grimmiger Laune!!« Kurz: Er macht das durch, was wir alle durchgemacht haben vor der Hochzeit.
Ravelin Horn strahlt in seinem vollen Glanz. 50 Gäste sind zum gesetzten Essen geladen, zum Polterabend kommen etwa 100 mehr, es wuselt von Lohndienern und Kaltmamsells, Köchinnen und Weinkellnern. Dagmar und ihre dänischen Schwestern sind die Ruhe selbst und an allen Töpfen gleichzeitig zugange. Nach dem Standesamt ist die Trauung am nächsten Tag in der Backstein-roten Marienkirche festlich und feierlich. Große Gebinde aus Herbstlaub und Astern schmükken die Säulen und den Altar, vier rosa-weiß gewandete Brautjungfern mit ihren Brautführern im Frack begleiten das Paar, vorneweg streuen sechs kleine Kinder Blumen. Kurt jun. spielt auf seiner Geige ein Adagio von Händel, der Pfarrer predigt über den Trauspruch Römer 8, Vers 15, den HG ausgesucht hat: »Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet, sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir
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