Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
Altbekannte. Als ehemaligem Bestatter wurde mir kein Gewehr, sondern eine Schaufel gereicht und ich trat meinen Dienst als Beseitiger von Gefallenen an. Einmal, zu Beginn meiner Zeit im Lazarett, fragte ich meinen Vorgesetzten nach Särgen, worauf er mich auslachte und mir zeigte, wo sich die Behälter mit ungelöschtem Kalk befanden. Die zerfetzten, verstümmelten und verbrannten Leichen machten mir weniger aus als meinen Kollegen. Ich konnte sehen, wie sie bei der Arbeit dachten: Das ist ein Sohn. Das ist ein Bruder. Das ist ein Vater. Das ist ein Kind.
Sie würden sich bald daran gewöhnen und verstehen, dass der Tod in vielen Formen kam und dass manche eben offensichtlicher waren als andere. Damit hatte ich mich schon vor langer Zeit abgefunden. Ich sah keine toten Menschen, nur Ohren und Füße und Schulterblätter. Wenn es zu viele waren, mussten wir sie mit Schaufelbaggern unter Tonnen von Sand und Erde begraben. Manchmal legte ich, wenn ich welche fand, Gänseblümchen auf die Gräber. Das Einzige, was mir Schwierigkeiten bereitete, war die Angst der Soldaten, die auch nicht aus ihren Augen wich, wenn ihr Herz längst aufgehört hatte zu schlagen; diese Angst erinnerte mich an Annis Blick, als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte.
Aus ihren Briefen ging hervor, dass man sie nicht des Mordes an Markus verdächtigte. Sie formulierte das so: »Im Dorf glaubt niemand, dass ich ein Schwein geschlachtet habe.«
Es war ihr gelungen, Fred vom Zeichnen abzubringen, indem sie ihn mit anderen Aufgaben beschäftigte. Sie schickte ihn täglich zur Bushaltestelle, Autos mit der Farbe seines geliebten Flitzers zählen; sie spornte ihn an, in der Kanalisation nach Arkadiusz zu suchen; sie las ihm aus seinem Lexikon
vor und berichtete, immerhin einen Buchstaben könne er inzwischen lesen wie schreiben: das a.
Als Paris eingenommen wurde und ich mit dem Heer die Champs-Elysées entlangmarschierte, beeindruckt von der Stadt und der Tatsache, wie schnell sie gefallen war, dachte ich an Wickenhäuser und seinen Traum davon, sich hier einen Frack schneidern zu lassen. Ich glaubte nicht, dass er, als ein für Frauen wie Männer Offener und als Jud von Schweretsried Bezeichneter, noch am Leben war. Erst Jahre später erfuhr ich, er hatte sich in Elses Blockhütte im Wald versteckt gehalten und war dort noch vor Ende des Krieges an einer Erkältung gestorben, weil er sich nicht getraut hatte, das Haus zu verlassen, um Holz zu hacken, aus Furcht vor uniformierten Monstern.
In Frankreich hatte selbst ich Mühe mit den Frauen. Ich konnte ja nicht mit ihnen reden. Und selbst wenn sie Deutsch verstanden: Aus offensichtlichen Gründen wirkte es nicht besonders attraktiv auf Französinnen. Weshalb ich stets mit Handzeichen vermittelte, ich sei taubstumm. Krümelige, vom Gold abgeschlagene Stückchen waren meine überzeugendsten Argumente. Einige investierte ich natürlich in Lebensmittel – vor allem in Milch und, wenn ich welchen auftreiben konnte, Speck –, aber diese Stunden mit schönen Frauen stillten, zumindest kurzweilig, einen ganz anderen, nicht zu unterschätzenden Hunger. Im Bett waren die Französinnen sehr viel bestimmter als Frauen in Deutschland, sie schienen genau zu wissen, was sie wollten, und mich beeindruckte immer wieder, mit welcher Intensität sie Liebe machten; als wäre es ihr letztes Mal.
Von ihnen erzählte ich Anni nichts. Ich wollte nicht, dass sie dachte, in meinem Leben gäbe es andere Frauen.
So wurden meine Briefe an sie kurz. Zu meiner täglichen Aufgabe zählte das Beseitigen von Toten. Die unzählbaren Augen, die ich nicht schließen konnte – auch davon konnte ich ihr kaum schreiben.
In meiner letzten Pariser Nacht – ich war an die Ostfront abkommandiert worden – atmete ich noch einmal das Parfum von zwei Französinnen und versuchte, mir jedes Detail ihrer Körper einzuprägen; die Farbe ihrer Brustwarzen, die Form ihrer Bauchnabel, das Zittern ihrer Augenlider und Krümmen ihrer Zehen, wenn sie kamen. Ich wollte Paris so sehr auskosten, wie ich nur konnte. In der Ukraine, so lautete die weit verbreitete Meinung, erkannte man einen glücklichen Soldaten daran, dass er Kartoffelschalen zum Essen hatte.
Dass die Hände der beiden Frauen kalt waren, hätte mir eine Warnung sein sollen. Ihr schwarzes und brünettes, glattes Haar verbarg ihre Gesichter, als ich ausgezogen auf dem Bett lag und sie mit ihren Zungen und Lippen über meinen Körper wanderten. Ich
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