Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
sicherzustellen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Anni bekreuzigte sich und flüsterte, ihr Bruder fliehe nach Süden. Anni brachte das Brautkleid der Bäckermeisterin Reindl und musste nicht viele Worte verlieren, weil der Blick der Mutter ihr verriet, dass diese sofort begriff. Anni richtete ihr aus, dass es mir leidtat und ich ihr ans Herz legte, dieses weiße Stück Pech zu vernichten. Anni eilte zu dem Hochstand im Wald, den Josfer, sie und ich früher oft aufgesucht hatten (und von dem ich einmal in einen Trog voll Jauche getaucht worden war), und fragte sich, während sie dort auf mich wartete, wo genau im Norden ich mich verstecken wolle und wann wir uns wiedersehen würden und ob ich noch einmal so lange fort sein würde, und nicht zuletzt: wie man sich von jemandem verabschiedete, der nie ganz zurückgekehrt war.
Vielleicht am besten gar nicht, dachte Anni, nachdem die Sonne bereits den Zenit überschritten hatte und noch immer jede Spur von mir fehlte. Die Befürchtung, man könne mich gefasst haben, wurde ihr genommen, als sie wieder im Dorf erschien. Uniformierte führten sie ab.
Zweiundsiebzig Stunden lang wurde sie verhört, ohne Anspruch auf Nahrung oder mehr als ein Glas Wasser alle paar Stunden, wich jedoch keinen Deut von ihrer Geschichte ab. Ihrem beharrlichen Kopfschütteln war letzten Endes nicht einmal die Gendarmerie gewachsen.
Bei der Rückkehr in ihr Haus wirkte Fred mehr tot als lebendig. Ganze Haarbüschel waren ihm ausgefallen, seine Haut war grau wie Blei. Als sie ihn zwang, einen Schluck Milch zu trinken, übergab er sich. Seine ersten Worte lauteten: »Mir gehört ein Flitzer!«
»Von mir aus kannst du damit machen, was du willst«, sagte sie. »Aber ich werde das Ding nie anrühren.«
»Wo warst du?«, fragte er, und Anni sah ihm in die Augen und fragte: »Wo warst
du
?«
»Hier.«
»Und davor?«
»Da.«
»Und was hast du da gemacht?«
Er blinzelte. »Nichts.«
»Du musst mir alles sagen, Fred. Das ist wichtig. Sehr wichtig. Sonst kann ich uns nicht beschützen.«
Er schwieg.
»Frederick!«
Er sprang auf, und zuerst dachte Anni, er wolle weglaufen, doch er holte nur Papier und Kohlestift, ein vorgezogenes Geschenk von Markus zu seinem neunten Geburtstag, und begann zu zeichnen. Anni sah ihm dabei zu, ihre Augen folgten jedem Strich, und sie schritt auch nicht ein, als sie begriff, was Fred da zeichnete, Anni ließ ihn weitermachen, weil sie längst entschieden hatte, dass dies Freds letzte Zeichnung sein würde. Wollten sie eine Chance haben, dann musste er damit aufhören, er durfte nie wieder ein Bild zeichnen, besonders keins von dieser Segendorfer Nacht. Anni würde alles daransetzen, es ihm auszutreiben, und wenn es das Letzte war, was sie tat. Sie würde ihm etwas anderes geben, einen Ersatz, der seine Zeit und seinen Kopf stattdessen füllte, vielleicht Wörter aus den Lexika oder eine simple Aufgabe, der er täglich nachgehen und die er nie abschließen könnte, Anni wusste, ihr würde schon etwas einfallen, und so würden sie leben können, sicher leben, und sie streichelte Fred über den Kopf und lächelte und sagte ihm: »Das wird gut.«
Paris
Anni schickte mir Freds Zeichnung zusammen mit ihrem ersten Brief, weil sie, wie sie ausführte, sie weder behalten noch wegwerfen konnte. Ihre Handschrift war ungewohnt eckig, und manche Wörter hatte sie, vielleicht in dem Bemühen, ihnen die Bedrohung zu nehmen, winzig klein geschrieben.
Nachdem ich die Zeichnung aufgefaltet hatte, legte ich meine auf Minas Hand, sodass sich unsere Fingerspitzen berührten, und verabschiedete mich von ihr. Ich war inzwischen gut darin, nicht zu weinen, wenn ich das Bedürfnis danach spürte. Dann legte ich das Gold in ihre Hand und wickelte es ins Papier. Mina sollte es für mich aufbewahren.
Annis erster Brief erreichte mich zwei Wochen nach meiner Ankunft im Kriegslazarett an der Westfront. Er war an Ludwig Wickenhäuser adressiert, der Name, den ich zu meiner eigenen Sicherheit gewählt hatte. Julius Habom wurde im Deutschen Reich für den Mord an einem Blockwart gesucht und hatte keine hohe Lebenserwartung.
Nicht, dass meine Chancen an der Front so viel besser standen. Man hatte mich eingezogen, aber ich sagte mir, nun, da ich Anni niemals würde wiedersehen können, war es egal, wie der Rest meines Lebens, von dem ich wenig erwartete, verlaufen würde – solange ich ihn nicht alleine verbringen müsste.
Zu meiner Gesellschaft zählten
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